Transkript der Podcast-Reihe:
Geschichten für eine lebendige Zukunft
Während die Tage vergehen und die Jahreszeiten sich verändern, möchte ich mehr von meiner eigenen Geschichte erzählen, von den Fäden, die das Schicksal für mich gewoben hat, und was es für mich bedeutet, diese Geschichte zu leben. Wir alle leben Geschichten – die unserer Eltern und Familien und die, welche wir an unsere Kinder weitergeben. Wir leben auch die Geschichten unserer Rasse und unserer Heimatländer, unserer Gemeinschaften, unserer Wohnorte, unserer Landschaften mit ihren Bäumen und ihren Horizonten. Wenn wir umziehen, von der Stadt ins Dorf oder vom Bauernhof in die Stadt, können sich unsere Geschichten verändern. Ich bin in London aufgewachsen, bin als Teenager durch die Straßen der Stadt gelaufen und später in einen kleinen Ort an der kalifornischen Küste gezogen. Durch diesen Ortswechsel ist eine andere Geschichte in meinen Körper und meinen Atem eingesickert. Es ist eine Geschichte von Hügeln, die sich erst grün und dann golden färben, von Nebel im Sommer und Stürmen im Winter, von strahlenden weißen Reihern in den Feuchtgebieten, und manchmal Geschichten von Feuer, von brennenden Wäldern, von dicken Rauchwolken.
Die meisten Menschen leben die Geschichte ihres Ichs, die sie mit ihren Sinnen, ihrem Verstand und Geist erfahren. Es ist eine Geschichte von Wünschen, Erfolgen und Misserfolgen sowie vom komplexen Geflecht menschlicher Beziehungen. Die Geschichte der Seele ist anders, sie hat andere Farben, ist bedeutungsvoller und reicher an Texturen. Sie ist sowohl mit dem Land als auch mit dem Herzen verbunden, und ist oft eine Reise der Selbstentdeckung, auf der man tiefer in sich selbst hineingezogen wird.
Und dann gibt es andere Geschichten, die von einer Reise erzählen, die von jenseits weit entfernter Horizonte kommt. Zu diesen Geschichten fühle ich mich hingezogen – zu Visionen von anderen Welten, unsichtbar, aber mächtiger als meine Vorstellungskraft. Es sind Geschichten von Licht und Dunkelheit, und davon, was heilig und vergessen ist. Diese Geschichten beschäftigen mich, weil sie meist ungesagt sind oder nicht in die bekanntere Landschaft unseres Lebens gehören. Sie passen nicht in vertraute Muster, sondern sprechen von einer weitreichenderen Landschaft, von verlorener Weisheit oder von einer Zukunft, die wir nicht zu sehen wagen.
Wir leben in einer Zeit, in der so vieles in Vergessenheit geraten ist – unsere Alltagswirklichkeit gleicht zerstörten Wildblumenwiesen. Selbst unsere Träume verlieren ihre Lebendigkeit und ihre Numinosität und rufen uns nicht mehr zu dem Land, wo die Pferde singen und die Großväter zu uns sprechen. Deshalb ist es vielleicht hilfreich, von diesem Reich der Seele zu erzählen, so wie es zu mir gesprochen hat, und dadurch, von dieser Landschaft tiefer Zugehörigkeit eine Spur zu hinterlassen. Da es meine Bestimmung ist, ein Mystiker zu sein, der tief in die inneren Welten und die Geheimnisse des Herzens eindringt, möchte ich mit einer Vision beginnen, die vor mehr als einem Jahrzehnt zu mir gekommen ist:
Letzte Nacht sah ich die gesamte Schöpfung wie ein Samenkorn, wie ein kleines rundes Objekt. Alles – alle Ozeane und Sterne, alle Bäume und Menschen, alle Versprechen und Träume – war in diesem kleinen runden Objekt enthalten. Alles, was existierte, war da. In vielerlei Hinsicht erinnerte mich meine Vision an die Erfahrung von Juliana von Norwich, der Anachoretin aus dem 14. Jahrhundert:
“Und da ließ Er mich ein kleines Ding schauen in der Größe einer Haselnuss, und es war rund wie eine Kugel. Ich betrachtete es mit dem Auge meines Verstehens und dachte: ‘Was mag dies wohl sein?’ Und mir wurde die allgemeine Antwort zuteil: ‘Es ist alles, was erschaffen wurde.’ Und ich wunderte mich, wie es bestehen kann, und dass es nicht plötzlich wegen seiner Kleinheit im Nichts versank. Und es wurde mir geantwortet: ‘Es besteht jetzt und immerdar, weil Gott es liebt.’”
Aber in meiner eigenen Erfahrung wurde mir dann gezeigt, dass es um dieses kleine Objekt herum einen riesigen Ozean der Nichtexistenz gibt, eine ursprüngliche Leere, die weit jenseits der Welt des Geschaffenen liegt. Diese Leere habe ich den größten Teil meines Lebens in der Meditation und in inneren Erfahrungen kennengelernt. Sie ist das Nichts vor und nach der Schöpfung, formlos und doch voller als die Schöpfung. Sie ist die tiefe Glückseligkeit unserer eigenen Nichtexistenz und eine Wirklichkeit jenseits der Beschränkung der Form. Und das kleine runde Objekt, das die Schöpfung war, schwamm in dieser Weite wie ein kleiner Planet im leeren Raum.
Weiter wurde mir gezeigt, dass es um diesen riesigen Ozean der dunklen Leere herum eine andere, größere Dimension des Lichts gab. Und ich wusste, dass dies das Bewusstsein Gottes war, das Bewusstsein, das in allem gegenwärtig ist und doch weit über alles hinausgeht. Ich nannte es in meiner Erfahrung das “Auge Gottes”, weil es alles sah und wusste, was existiert und nicht existiert. Und obwohl mir dieser Ozean des Lichts gezeigt wurde, als umgebe er die Leere – wie ein Kreis um einen anderen –, wusste ich, dass er nicht getrennt war, sondern alles durchdrang. So wie die Leere dem Raum zwischen den Atomen gleicht und alles durchströmt, so umschließt und durchdringt dieses Licht, dieses Wissen, dieses unermessliche Bewusstsein, alles. Für eine Weile war ich dieses Licht und sah, wie es in jeder Zelle der Schöpfung leuchtete, voller Lachen, Freude und Wissen. Ich sah, wie es die Geschichten des Göttlichen in unserer gewöhnlichen menschlichen Welt erzählte und gleichzeitig grenzenlos war.
Diese ganze Erfahrung hat sich in mein eigenes kleines Bewusstsein eingebrannt: die kleinste Kugel der gesamten Schöpfung, der riesige dunkle Ozean der Nichtexistenz, und dann dieser Kreis aus Licht, der sich weit über das hinaus erstreckt, was ich sehen konnte. Alles schien in diesem Licht, in diesem großen Bewusstsein, zu ruhen.
Dieses Licht schließt alles ein. In meinen Meditationen und inneren Erfahrungen wurde mir aber auch die Essenz gezeigt, die selbst diesem Licht zugrunde liegt – es ist die Substanz, das Fundament von allem, was ist und nicht ist. Sie wird das Absolute oder das Wirkliche genannt, ihre Natur ist unerkennbar und doch ist sie die Urquelle. Sie ist alles, was wirklich existiert oder nicht existiert – alles andere, sogar das Licht Gottes, stammt von ihr ab. Für die Sufis ist die Farbe dieser Wahrheit smaragdgrün, obwohl sie auch als schwarz erfahren werden kann. Schwarz bedeutet die Abwesenheit von sichtbarem Licht und symbolisiert die völlige Entsagung oder die mystische Armut. Im Absoluten selbst gibt es keine Farbe, keine Reflexion, kein Licht. Es ist in sich vollständig.
Und ein Mensch kann diese multidimensionale Wirklichkeit, dieses weite Panorama des Göttlichen erfahren, obwohl er so klein und unbedeutend ist und nur für einen flüchtigen Augenblick hier auf dieser Welt ist. Das Auge des Herzens kann diese allmächtige Ganzheit sehen und umfassen. Dies ist eines der größten Geschenke, das uns gegeben wurde. Wie es im Hadith heißt: “Himmel und Erde können Mich nicht umfassen, aber das Herz Meines ergebenen Dieners vermag es.”
Die Geschichte der Liebe und die Geschichte des Lebens haben mich zu diesem Ort, zu diesem Bewusstsein gebracht und mir den Augenblick dieser zeitlosen Erfahrung geschenkt. Und diese zieht mich auch tief nach innen, zu unzähligen Erinnerungen, zu einem Gefühl, dass vor langer Zeit – über viele Leben hinweg – etwas sehr klar und einfach war. Lange vor all den Dramen und Schwierigkeiten waren das Menschliche und das Göttliche auf eine Weise zusammen, die wir verloren zu haben scheinen.
Immer mehr fühle ich mich zu dieser uralten Erinnerung hingezogen, wie zu einem fernen Herzschlag. Ich habe das Gefühl, dass die “Freunde Gottes” in dieser Zeit vor dem Sündenfall “Freunde mit Gott” waren. Da war diese Kameradschaft mit etwas “Anderem”, das nicht “anders” ist – diese Freundschaft mit dem Göttlichen und der ganzen Schöpfung. Es war wie ein einfaches Lied, für das ich jetzt Worte brauche. Und in dieser Erinnerung liegt eine Zärtlichkeit, die sich auch wie ein Wiedersehen, wie eine Berührung anfühlt.
Als ich zum ersten Mal in diesem Leben erwachte – es war im Sommer als ich sechzehn war und einen Zen-Koan über Wildgänse gelesen hatte – öffnete sich in mir eine Tür, von der ich nicht wusste, dass sie existierte. Ich fand mich zurück im Garten am Fluss und erlebte, wie das Licht auf dem Wasser glitzerte und die Blumen in Farben erstrahlten, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt. Ich kannte diesen Garten, weil ich nachmittags nach der Schule oft dort saß – aber so lebendig hatte ich ihn noch nie empfunden. Ich frage mich oft, was diese erste Erfahrung bedeutet. War sie sowohl ein Vorgeschmack wie auch eine Erinnerung? Zeigte sie mir ein Tor in eine andere Welt, das immer schon da war, auch wenn es längst vergessen schien?
Ja, es gab zu dieser Zeit andere Erfahrungen, als ich anfing, tief in die Meditation einzutauchen, in eine Stille, die mich weit über die Welt der Formen hinaus in die Leere führte. Diese Leere, die mir so vertraut werden sollte und auch zum Freund. Aber die Schönheit des Gartens am Fluss bleibt der stärkste Eindruck, selbst jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert später, obwohl mir der Pfad so viele andere Erfahrungen geschenkt hat. War es immer so, als das Licht in allem Geschaffenen lebendig war? Ich habe dies seither nie wieder so direkt erfahren, obwohl ich auf vielen frühmorgendlichen Spaziergängen eine bebende Schönheit gespürt habe, wenn die Sonne den Nebel durchbricht.
Und so hat mich diese innere Reise weit über diese äußere Welt hinausgeführt, ins Formlose und darüber hinaus. Sie hat mich die Substanz erfahren lassen, die allem was ist und nicht ist zugrunde liegt – die wir Wirklichkeit nennen können, obwohl sie keinen Namen hat. Nach dem Erkennen dieser Realität, die in jede Zelle und in jeden Seestern eingeprägt ist, kehre ich in diesen einfachen Garten zurück mit so etwas wie der Sehnsucht nach einer ersten Liebe, die ich nie ganz kannte. Hier, an diesem Ort, hat in diesem Leben alles begonnen und ich ahne auch in unzähligen Leben zuvor. Dies ist der “Anfang” der Geschichte, als das Göttliche nicht gesucht werden musste, da es eine allumfassende Freundschaft gab. Alles war sich seines wahren Sinns bewusst, und jeder Grashalm, jeder Mensch und jeder Traum wusste von seiner Zugehörigkeit. Und hier, in dieser Welt, in der das Menschliche und das Göttliche sich begegneten und über das Wunder dessen, was ist, sprechen konnten, gab es keine Trennung zwischen Geist und Materie.
Ähnlich einem Baum, der zu seinen Wurzeln zurückkehrt, habe ich versucht, diese Elemente in meinem Leben aufzuspüren, wie in der Vision der Schichten der Existenz – der Schöpfung, der Leere und dem Licht des göttlichen Bewusstseins. Gleichzeitig ziehen mich alte Erinnerungen zurück in eine ursprüngliche Verbindung sowohl zum Schöpfer als auch zur Schöpfung. Und wer ist dieser Mensch, der diese Fäden zusammenhält, der diese Präsenz in seinem Herzschlag spürt? Wer lebt das Licht der Seele und auch die Elemente der Erde – hier an diesem Ort, wo Liebe erfahren und Trauer gefühlt wird?
Einige Zeilen von Rumi klingen seit mehr als fünfzig Jahren in mir nach, seit ich sie in meinen späten Teenagerjahren zum ersten Mal las:
Ich bin die Qual des Eifersüchtigen, ich bin der Schmerz des Kranken.
Ich bin Wolke und Regen zugleich: Ich habe auf die Wiesen geregnet.
Nie hat sich der Staub der Sterblichkeit auf mein Gewand gelegt, o Derwisch!
…
Ich bin nicht Shams-i Tabriz, ich bin das reine Licht.
Wenn du mich siehst, so hüte dich! Erzähle niemandem, was du gesehen hast!1
Rumi beschreibt sich hier als den Vollkommenen Menschen, der der Universelle Geist ist. Er hat das Menschlichste angenommen und ist doch auch über den Glanz seiner Sonne, Shams, hinausgegangen. Er ist zum Licht geworden, das die göttliche Essenz ist.2
Es ist dieses Licht, die Essenz unserer Essenz, das uns im Herzen zu sich ruft, “die Liebe in unserer Liebe”. In der Tiefe meiner eigenen Meditation bin ich von diesem Licht berührt worden. Ich bin sogar in eine Welt gereist, die nur aus Licht besteht. Natürlich habe ich mich danach gesehnt, zur Sonne der Sonnen zurückzukehren, mich in ihr zu verlieren. Und doch hat es mich immer wieder zurückgezogen, gerufen von einer menschlichen Geschichte, als ob die Elemente dieser Welt mir ihr Geheimnis erzählen müssten. Der spirituelle Weg machte mich zu einem Staubkorn zu Füßen meiner Lehrerin, und noch immer bin ich dieser Staub.
Ich weiß, dass im Kern all unsere Geschichten die eine Geschichte des Göttlichen sind – es gibt nichts anderes als dieses Eine Wesen. Und gleichzeitig wird jedem von uns eine einzigartige Erfahrung des Einen zuteil – jeder von uns hat seine eigene Geschichte. Manchmal können wir durch die Geschichte der Seele einen Blick auf die Geschichte des Göttlichen erhaschen, auf diese wunderschöne, herrliche, zärtliche Liebesgeschichte. Und doch ist es auch unser eigenes Herz, das berührt wird, das diese Liebe spürt – die Geschichte des Geliebten wird zu unserer intimsten Erfahrung. Dies ist die Inkarnation der Liebe, wenn wie in der christlichen Geschichte Christus in unserem Herzen lebendig wird. Es ist die Geschichte Christi und doch ganz und gar unsere eigene. Das ist es, was wir der Liebe und dem Geliebten darbringen können: die Möglichkeit einer einzigartigen, zerbrechlichen menschlichen Geschichte – ein Raum, in dem die göttliche Liebe immer wieder neu geboren werden kann. Vielleicht ist es gerade unsere Verletzlichkeit, die es überhaupt erst möglich macht, diese Geschichte der Liebe zu erzählen.
Gehört dies zur wahren Natur unserer Freundschaft mit Gott? Sind wir Partner in dieser göttlichen Offenbarung, in dieser Liebesgeschichte, die wir Leben nennen? Sie ist geheimnisvoll, leidenschaftlich, berauschend und in vielen Fällen fast unerträglich schmerzhaft. Die Geschichte der Seele ist die am tiefsten empfundene, sie bringt mehr Freude und mehr Leid mit sich als die Geschichte des Ichs. Und seltsamerweise scheint sie auch viel persönlicher zu sein, vielleicht weil wir sie tiefer fühlen und sie weniger illusorisch ist. Paradoxerweise ist unsere tiefste persönliche Geschichte unsere Beziehung zum Göttlichen – sie ist das, was am menschlichsten ist. Für den Mystiker ist sie nicht nur eine Freundschaft, sondern auch eine Liebesbeziehung, die intimer ist, als sie es je mit einem menschlichen Partner sein könnte – sie berührt jede Faser des Herzens, jede Zelle des Körpers. Es ist unsere eigene Seele, die aufschreit, die von der Liebe verführt, umarmt und verzehrt wird. Die Berührung eines göttlichen Liebhabers ist näher, zärtlicher und ekstatischer als jede menschliche Berührung. Ist das unsere tiefste menschliche Berufung, ein Liebender zu sein – unser Leben eine Liebesgeschichte?
Diese Fäden in meinem Herzen, in meiner Seele zu finden – ist dies, was es bedeutet ein Mensch zu sein? Ein Freund zu sein, ein Liebender, verbunden mit dem Göttlichen und mit der Erde – ein Band der Liebe zwischen beiden zu sein, ein Raum, in dem eine Liebesgeschichte erzählt und ein Geheimnis offenbart werden kann? Und ist diese Substanz, die ich in mir spüre, die Essenz dieser Geschichte, die Leben für Leben immer wieder erzählt wird – dieselbe Geschichte, erlebt in einer anderen Landschaft? Als ob der ständige Wandel des Lebens etwas Unveränderliches enthüllt, wie Granit, von endlosen Tagen mit Sonne, Wind und Regen3 freigelegt wird. Könnte es sein, dass das Absolute, die Ursubstanz von allem, eine menschliche Qualität hat? Offenbart sich in unserer menschlichsten inneren Natur die Essenz, die Wurzel von allem, was existiert und nicht existiert? Ist jede Reise eine Rückkehr zu dieser Essenz, die in Ihrer Substanz etwas zutiefst Menschliches eingeprägt oder enthüllt hat?
Die ewige Essenz ist unveränderlich, “Sie ist, wie Sie war.”4 Es gibt keine Evolution, denn Sie ist in sich selbst vollständig.5 Doch aus dieser unveränderlichen Essenz ergießt sich eine sich ständig verändernde Welt, wunderschön in ihrer Zerbrechlichkeit. Dies ist die “Welt der Tautropfen”, und unsere menschliche Erfahrung ist es, ein verletzbarer und vergänglicher Partner dieser sich von Augenblick zu Augenblick entfaltenden Offenbarung6 zu sein. Wir sind sowohl Zeugen als auch Mitwirkende. Wir leben im Wechsel der Jahreszeiten, und in ihren Zyklen liegen auch die Jahreszeiten unserer Seele. Nun da ich den Herbst meines eigenen Lebens fühle, spüre ich eine tiefe Veränderung, als ob diese unveränderliche Essenz und meine eigene Geschichte auf eine neue Weise miteinander verwoben wären, obwohl sie nie getrennt waren.
Mein Leben war eine Liebesgeschichte, auch wenn die Seiten in den ersten zwanzig Jahren leer geblieben sind. Es war auch ein Zusammenkommen vieler Welten, manche sichtbar, andere eher verborgen. Meine Träume haben mich geleitet, meine Visionen haben mich geöffnet. Und das Zusammentreffen dieser Welten hat etwas offenbart, hat ein Geheimnis des Geliebten enthüllt. Wenn wir uns nur an der Oberfläche unseres Lebens bewegen, vom rationalen Bewusstsein eingeschränkt, bleibt dieses Geheimnis verborgen, diese Möglichkeit des Lebens ungelebt, verloren. Wenn aber das Innere und das Äußere zusammenkommen, wird ein Mysterium immer wieder neu geboren.
Wir alle sind das menschliche Antlitz, die menschliche Geschichte des Göttlichen. Eine der größten Gaben der Erde ist es, uns zu ermöglichen, diese Geschichte zu leben, diese Erfahrung zu machen. In gewisser Weise ist dies auch unser größtes Geschenk an die Erde, unsere eigene einzigartige Geschichte, der Funke in unserem Herzen, der auf das Licht in der Schöpfung trifft. Und in dieser Begegnung wird etwas lebendig; eine unbenennbare, unerkennbare Essenz nimmt Gestalt an, erhält einen Herzschlag und einen Atem. Es heißt, ein Stern wird geboren, wenn dieser Moment bewusst wahrgenommen wird.
Meine eigene Geschichte führt zurück bis zum Anfang. Sie trägt auch eine tiefe Traurigkeit in sich, die zum Teil die Traurigkeit darüber ist, was wir dieser Erde angetan haben, diesem uns anvertrauten Geschenk. Die Magie hat sich zurückgezogen. Die Namen der Schöpfung sind vergessen, die Meere und die Luft verschmutzt, die Bäume abgeholzt, alles im Namen des Fortschritts. Ist es das, wohin uns unsere Träume gebracht haben? Ist es das, was wir unserem Freund, unserem Geliebten, anzubieten haben – ist dies die letzte Seite der Liebesgeschichte des Lebens, die wegen dieser Entweihung leer bleibt?
Meine Geschichte kann nicht anders, als diesen Herzschmerz zu tragen; meine Seele ist von ihm geprägt. Aber obwohl meine Geschichte der ganzen Erde gehört, ist sie auch sehr persönlich. Sie ist Teil meiner Essenz geworden. Ich kann diesen ersten Moment im Garten nicht vergessen, als alles lebendig war, als Magie und Licht gegenwärtig waren. Ich kann nicht vergessen, was wir verloren, weggeworfen und mit Füßen getreten haben. Und doch, während ich heute meinen Morgenspaziergang mache – die noch ungeöffneten orange-gelben kalifornischen Mohnblumen wartend am Wegesrand, ein Falke ruhend auf einem Zaunpfahl – ist dieser Moment noch immer präsent, wenn auch halb verborgen im Nebel der Morgendämmerung.
Und so geht das Leben weiter, Moment für Moment, der Ausatem folgt dem Einatem. Der Wind biegt die Bäume, das Licht ist sichtbar und verborgen, der Geliebte anwesend und abwesend. Die Liebe und das Leben erzählen ihre eigene Geschichte, und mit jedem Atemzug bin ich ein Teil davon. Ich mag weit in die inneren Welten gewandert sein, in andere Dimensionen, aber meine Füße berühren immer noch diese ERDE. Solange ich atme, werde ich Teil Ihrer Geschichte sein, Ihres Liedes – ein Ort, an dem die Welten zusammenkommen, an dem das Gesicht des Geliebten sichtbar werden kann.7
©2024 The Golden Sufi Center, www.goldensufi.org
- “The Soul of the World”, Rumi Poet and Mystic, trans. R.A. Nicholson, Seite 182-3.
- Wie ich in einem früheren Podcast erwähnt habe, ist dieses Licht, das den Sufis als das muhammedanische Licht oder al-Nur al-Muhammadi bekannt ist, der erste Ausdruck der Essenz, auch wenn es mit ihr identisch ist.
- Chuang Tzu, der taoistische Philosoph, schreibt: “Alles hat seinen Ursprung im Formlosen und mündet im Unwandelbaren.”, Kapitel 19 “Grasping the Purpose of Life,” The Book of Chuang Tzu, trans. Martin Palmer, Seite 157.
- Hadith.
- “Als Er die Dinge, die sind, ins Dasein rief, war Er bereits mit allen Seinen Eigenschaften ausgestattet, und Er ist, wie Er damals war. In Seiner Einheit gibt es keinen Unterschied zwischen dem Neuen und dem Ursprünglichen.” Ibn ‘Arabi, Fatuhat al Makkiyyah: The Meccan Revelations.
- Es gibt ein berühmtes Gedicht von Issa, das er nach dem Tod seiner Tochter geschrieben hat und das die Vergänglichkeit unserer Welt zum Ausdruck bringt als auch die Trauer darüber:
Diese Welt der Tautropfen…
Ist eine Tautropfenwelt
Und doch, und doch… - Koran Sura 2:115 “Allah gehört der Osten und der Westen. Wohin ihr euch auch immer wendet, dort ist Allahs Angesicht.”