Transkript der Podcast-Reihe:
Geschichten für eine lebendige Zukunft
Abschließend möchte ich noch ein wenig über den Tod sprechen, der im Leben eines Mystikers eine so wichtige Rolle spielt. Dabei geht es mir nicht so sehr um eine detaillierte Beschreibung des Todes, wie sie in der tibetischen Darstellung des Bardo – den Übergangsstadien zwischen zwei irdischen Leben – zu finden ist. Vielmehr möchte ich darüber nachdenken, wie der Tod meinen eigenen Lebensweg beeinflusst hat. C.G. Jung schreibt, dass “in der geheimen Stunde der Mittagszeit des Lebens der Tod geboren wird”. Der Tod ist seit vielen Jahren mein Freund und Begleiter, und in letzter Zeit ist er immer präsenter geworden, da mein Bewusstsein immer mehr absorbiert wird. Oft habe ich das Gefühl, dass ein großer Teil meines Bewusstseins schon weit in die inneren Welten gegangen ist und nur noch ein Bruchteil von mir hier ist. Immer mehr umgibt mich diese Welt aus Licht und unendlichem Raum.
Neulich habe ich von jemandem gelesen, der das Altern und sogar den Tod durch ein strenges Trainings- und Vitaminprogramm zu besiegen hofft.1 Das hat mich zum Schmunzeln gebracht, denn vor vielen Jahrhunderten haben uns die Upanishaden einfache und klare Anweisungen gegeben, wie wir meditieren, uns nach innen wenden und die Wahrheit unserer ewigen Natur erkennen können.2 In der Katha-Upanishad erklärt Yama, der Herr des Todes, dem Jungen Nachiketas das Geheimnis des unsterblichen Geistes und wohin der Mensch nach dem Tod geht, wie “Er im Herzen gefunden werden kann. Wer ihn findet, geht in das unsterbliche Leben ein.”
Die Sufis haben den beliebten Ausspruch, “dass wir sterben müssen, bevor wir sterben”. Das Ich und sein illusorisches Gefühl eines getrennten Selbst – seine Wünsche und Anhaftungen – müssen sterben, bevor wir diese physische Welt verlassen. Dieser “Tod” wird Fana, Auslöschung, genannt und führt zum Zustand von Baqa, dem Verweilen in Gott. Weniger verstanden wird, dass wir durch diesen “Tod” die ewige Welt der Seele oder des Selbst zu erfahren beginnen. Es ist diese Dimension der reinen Liebe und des Lichts, die uns erwartet, wenn wir schließlich hinübergehen, wenn wir “diese sterbliche Hülle ablegen”.
Diese Welt der Liebe und des Lichts wurde durch Nahtoderfahrungen dokumentiert – eine bedingungslose, allumfassende Liebe – oder ein Licht, das von einem Lichtwesen ausgeht, dessen Essenz strahlendes Licht ist. Weniger bekannt ist, dass diese Liebe und dieses Licht die eigentliche Natur unserer Seele sind. Wir sind das Wesen der Liebe und des Lichts, und das Licht am Ende des Tunnels, das einige Menschen erfahren haben, ist unsere eigene Seele. Der Frieden und die Glückseligkeit, die in diesem Übergang erlebt werden können, gehören zu unserer göttlichen Natur und sind niemals von uns getrennt. Wir haben sie nur vergessen, unsere wahre Natur ist vor uns verschleiert. Der Sufi, der “stirbt, bevor er stirbt”, kann diese transzendente Dimension des Selbst oder Atman erfahren, während er noch in der physischen Welt lebt, sei es in tiefer Meditation oder sogar im Wachbewusstsein.
Leider hat unser heutiges rationales Bewusstsein nur wenig Verständnis für diese transzendente Dimension unseres eigenen Seins und glaubt nur an die greifbare Welt der Sinne oder des Verstandes.3 Aber das heißt nicht, dass es keine Welt des Lichts und der Liebe gibt, sie wurde nur aus unserem Bewusstsein zensiert. Als Mystiker bin ich in dieses Licht hineingezogen worden, habe diese Liebe erfahren und einen Einblick in die Welten erhalten, die am anderen Ufer der Liebe warten. Der Sufi-Pfad entspringt dieser inneren Realität und zieht uns zurück, öffnet eine Tür, die den meisten verschlossen bleibt.
Es gibt viele Geschichten darüber, was nach unserem Tod geschieht. Ich erinnere mich, dass ich bei der Beerdigung meines Vaters beobachtete, wie er seinem eigenen Begräbnis zusah. Dann, als sein Sarg auf dem Friedhof mit Erde bedeckt wurde, verschwand er hinter den Wolken. Bis dahin hatte ich immer gedacht, dass Beerdigungen für die Hinterbliebenen seien, um ihrer Trauer und ihrem Verlust Ausdruck zu verleihen. Jetzt weiß ich, dass sie auch für die Verstorbenen sind – um ihnen zu helfen, sich ihres eigenen Todes bewusst zu werden, damit sie nicht zu lange in der Welt der Schatten umherirren und ihr Geist sich ihres “Todes” voll bewusst wird. Es heißt, es gebe Wesen, die bei dieser Arbeit helfen und den Verstorbenen zeigen, dass sie die physische Welt hinter sich gelassen haben und ihre Lieben sie deshalb nicht mehr hören oder sehen können.
Die meisten Seelen kehren, angezogen von der Anziehungskraft der Erde, schnell zu ihrer nächsten Inkarnation auf diese Welt zurück. Sie haben ihr früheres Ich an der Schwelle zur anderen Welt zurückgelassen und verweilen vielleicht eine Weile in der jenseitigen Dimension, bevor etwas in ihnen sie wieder in den Kreislauf der Inkarnationen zurückruft. Oft kehren sie als Teil derselben kollektiven Psyche zurück wie in ihrem vorherigen Leben, auch wenn sie sich vielleicht zur Erfahrung eines anderen Geschlechts hingezogen fühlen. Die Feinheiten von Karma und Reinkarnation mögen dem Verstand und dem Ego komplex erscheinen, aber für die Seele sind sie einfach, denn sie gehören zu einem Muster der Resonanz. Eine Seele wird dorthin gezogen, wo sie hingehört, wo ihre Reise, ihre Evolution weitergehen kann.
Am Ende des Lebens gibt es ein Urteil, aber nicht in dem Sinne, wie wir es hier verstehen, denn es gibt keine Verurteilung. Es ist eher ein Rückblick auf die Lektionen, die wir gelernt oder nicht gelernt haben. Nahtoderfahrungen beschreiben einen Lebensrückblick, in dem das ganze Leben an einem vorbeiziehen kann. Es gibt kein “gut oder schlecht”, sondern nur ein Verstehen – zum Beispiel die Einsicht, dass man nie gelernt hat, sich selbst zu lieben. Es gibt ein Urteil, aber es gehört zur Seele und ihrer Dimension des Absoluten, des Bedingungslosen. Es führt zu einer Qualität echter Verantwortung für das gelebte Leben und zur Erkenntnis, wie die Seele in ihrer Entwicklung voranschreiten kann. Die Werte der Seele unterscheiden sich sehr von denen des sterblichen Ichs. Statt um die vergänglichen Werte von Geld oder Status geht es oft um Liebe oder Güte, die wir gegeben oder empfangen haben.
Ich weiß nicht viel über Himmel und Hölle. Aber ich weiß, dass es auf der anderen Seite Orte von großer Schönheit und Frieden gibt und dass manche Seelen dorthin gebracht werden, um sich auszuruhen und zu erholen, besonders nach einem traumatischen oder schweren Tod. Es existieren auch innere Orte, an denen es wenig Licht gibt, so wie man in dieser Welt Orte findet, an denen es Grausamkeit und wenig Freundlichkeit oder Fürsorge gibt. Irina Tweedie, die nach dem Krieg in Neapel lebte, beschrieb eine innere Landschaft, die sie an die ärmsten und elendsten Viertel der Stadt aus jener Zeit erinnerte. An diesen Orten standen die Gebäude so dicht beieinander, dass nur wenig Licht hineinkommen konnte, und es wurde immer geweint, und die Seelen konnten sie nicht von sich aus verlassen. Sie erfuhr, dass es ihre Aufgabe war, dorthin zu gehen und die Seelen an andere, weniger qualvolle Orte zu bringen.
In der jenseitigen Welt haben Seelen, die sich über eine reine Ich-Existenz hinaus entwickelt haben, mehr Wahlmöglichkeiten. Dort gibt es “Schulen”, insbesondere spirituelle Schulen, wo Lehren weitergegeben werden oder wo man Heilen oder andere Qualitäten des Dienens erlernen kann. So besteht die Möglichkeit, mit einem größeren Verständnis dafür, wie man dienen kann, in diese Welt zurückzukehren. Die meisten Seelen inkarnieren sich wieder in dieser Welt, um hier zu arbeiten. Aber es gibt auch andere innere Dimensionen, in denen Hilfe gebraucht wird, in denen spirituelle Arbeit geschieht.
Je weiter wir auf dem spirituellen Weg voranschreiten, desto mehr sind Leben und Tod miteinander verwoben. Für mich war es immer ein Geheimnis, wie das Leben so viel von unserer wahren Natur verbirgt, die erst der Tod enthüllt. Während wir in dieser Welt oft mit Problemen und den seltsamen Verzerrungen unserer Psyche und unseres Ichs konfrontiert sind, gibt es auf der anderen Seite reine Liebe und Licht. Der heilige Paulus hat gesagt: “Denn wir sehen jetzt durch einen Spiegel, undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie auch ich erkannt worden bin.”4 Diese Worte klingen tief in mir nach – sie drücken aus, wie diese Welt das Wahre wie in einem Jahrmarktsspiegel verzerrt. Im Inneren des Herzens ist immer eine andere Wirklichkeit präsent, aber um dorthin zu gelangen, ist entweder der physische Tod oder der Tod des Ichs notwendig.
Leben um Leben werden wir ins Vergessen hineingeboren, und dann beginnt die Arbeit des Erinnerns – was bedeutet, den Faden unserer spirituellen Natur zu finden und wieder zu lernen, sie zu leben. Die Sufis sprechen nicht ausdrücklich von Reinkarnation. Aber die Wiedergeburt allein erklärt die Schichten, die ich in mir gefunden habe – wie geologische Ablagerungen – in denen jedes Leben seine Spuren hinterlassen hat. Ich wusste immer, dass ich in vielen Leben spirituelle Praktiken ausgeübt hatte, oft als Buddhist oder Taoist, denn ihre Lehren machten Sinn, ohne dass ich sie studieren musste. Als meine Kinder geboren wurden, erkannte ich auch, dass ich keine Prägung als Familienvater besaß, da ich viele, viele Leben als Mönch oder Einsiedler verbracht hatte.
Gleichzeitig habe ich diejenigen wiedererkannt, zu denen ich eine tiefe Seelenverbindung habe, eine unerwartete Vertrautheit, die es in meiner Kindheit nie gegeben hat. Es gibt so viele Verbindungen über verschiedene Leben hinweg – Freunde, Weggefährten, Geliebte – und wenn man ihnen wieder begegnet, spürt man eine Resonanz, die sich rational nicht erklären lässt. Wie der große Sufi Abu Sa’id ibn Abil Khayr sagte: “Seelen erkennen einander am Geruch, wie Pferde”. Manchmal ist es notwendig, vergangenes Karma aufzuarbeiten und Liebe und Akzeptanz zu schenken. Diese Beziehungen können uns auch helfen, uns zu erinnern, uns wieder zu verbinden und uns gemeinsam auf den Weg zu machen. Spirituelle Gruppen können zusammen inkarnieren, um sich gegenseitig auf dem Pfad zu helfen und ein Gefäß für diese Arbeit der Seele zu bilden, Licht in die Welt zu bringen. Die Beziehung zu einem spirituellen Lehrer kann auch “ein für alle Mal” sein und sich Leben für Leben wiederholen. Irina Tweedie beschreibt ein Bild ihres Lehrers aus einem früheren Leben:
Ich erzählte ihm, er sei mir eine Zeitlang in gewisser Weise wie Surya, der Sonnengott, vorgekommen. Ich hätte einmal eine Vision von einem riesigen Tempel gehabt, mit weißen, roten und gelben Säulen und dunklen kühlen Gängen mit steinernem Boden. Und da wäre jemand gewesen, von dem ich gewusst hätte, dass er es sei, obwohl er ganz anders und viel jünger ausgesehen hätte. Er wäre auch da in Weiß gekleidet gewesen, und ich erinnerte mich deutlich an die Sandalen an seinen braunen Füßen, an jede Einzelheit, ich könnte sie genau beschreiben.5
Oft fand ich mich bei der ersten Begegnung mit einem Schüler, den ich aus einem früheren Leben kannte, am Ort unseres letzten Treffens wieder – in einem Zen-Kloster, einem buddhistischen Tempel in China oder hoch in den Bergen Tibets. Ich erinnere mich daran, wie wir zusammen meditierten und an die Praktiken, die vermittelt wurden.
Ich habe auch beobachtet, wie Erfahrungen aus früheren Leben mein jetziges Leben beeinflusst haben. Als ich mit sechzehn Jahren zum ersten Mal spirituell erwachte, fühlte ich mich in ein Kloster zurückversetzt, wo ich Zen-Meditation praktizierte. Und als ich sieben Jahre alt war, kam ich in ein Internat, das einem Zen-Kloster nur allzu ähnlich war. Allerdings spielte ich Fußball, statt den Hof zu fegen, lernte Latein, statt zu meditieren, sang “amo, amas, amat”6, statt Sutras zu rezitieren. Aber beide Orte wurden von Glockengeläut beherrscht. Später kamen Erinnerungen an frühere Leben zurück – an viele, viele Stunden der Meditation. Sie deuteten darauf hin, was ich in diesem Leben immer am liebsten tat: in der Stille zu sitzen. Interessanterweise erinnerte ich mich immer daran, in Tibet Schwarz getragen zu haben, was dem Bild der rotbraun gekleideten Mönche zu widersprechen schien. Aber dann hörte ich von den Drukpa Kargyu, die in Tibet alle schwarze Shemtabs (Gewänder) trugen. In Indien haben sie damit aufgehört, weil alle anderen kastanienbraun trugen und die Drukpa Kargyus nicht zu sehr auffallen wollten. Sie sind eine authentische Yogi-Meditationslinie, sehr bescheiden und unauffällig und ziemlich geheimnisvoll. Sie leben gerne im Verborgenen, und es ist schwierig, Bücher über ihre Linie und ihre Praktiken zu finden. Sie praktizieren Dzogchen-Meditation und auch eine Chöd-Praxis, die auf Leichenfeldern ausgeübt wird und daher mit dem Tod assoziiert wird.
Der Praktizierende wird in der Maitri-Meditation geschult, einer Meditation der Liebe, in der systematisch alle Mauern niedergerissen werden, die das Herz daran hindern, ein Gefühl von völligem und bedingungslosem Altruismus zu empfinden. Die Praxis von Chöd bedeutet, dass die Yogini oder der Yogi so meditiert, dass sie oder er sich – Stufe für Stufe – in den Prozess der Hingabe und Darbringung des Körpers und des Ichs vertieft. Diese selbstlose Hingabe ist erst dann voll verwirklicht, wenn der Praktizierende schließlich in Samadhi aufgeht. Dzogchen und Chöd haben eine große Ähnlichkeit mit der Herzmeditation der Sufis, zu der ich mich in diesem Leben hingezogen fühle. Es geht um eine tiefe Hingabe durch das Herz, bei der man immer tiefer in sein Inneres eintaucht, bis man schließlich mit dem Lehrer und dann mit der absoluten Wahrheit verschmilzt.
Leben und Tod sind nicht getrennt, sondern Teil eines über Jahrhunderte gewobenen Teppichs, dem jedes Leben einen anderen Faden, eine andere Farbe, eine tiefere Resonanz hinzufügt. Wenn das Leben nur aus dem Ich heraus gelebt wurde, löst es sich nach dem Tod auf, seine Erinnerungen sind vergessen, auch wenn einige Lektionen wiederholt und neu gelernt werden müssen. Doch wenn die Seele sich voll eingebracht hat, dann bleiben die spirituellen Qualitäten, ja sogar die Erinnerungen, und sie können im aktuellen Leben wieder erwachen oder wie ein Duft sein, dem man folgt. Die Qualitäten der Seele unterscheiden sich sehr von der definierten Welt des Ichs und des Verstandes, und sie gehören nicht der Zeit an. Sie überwinden die Trennung zwischen Leben und Tod.
Doch es kann auch eine Last mit sich bringen, wenn nicht jedes Leben zum ersten Mal gelebt wird. In den letzten Jahren habe ich mich müde gefühlt, erschöpft von dreißig Jahren des Lehrens. Aber der Traum einer Freundin gab dem eine etwas andere Perspektive, die mich zum Lächeln brachte:
“Ich sehe dich vor langer, langer, langer Zeit als jungen buddhistischen Mönch (vielleicht zwischen 16 – 18 Jahre alt) irgendwo in den Bergen. Du wanderst auf einem Pfad durch eine wunderschöne Natur. Du siehst so rein und unschuldig aus, und ich weiß, dass du dieses buddhistische Versprechen abgelegt hast, dass du bis zum Ende deiner Inkarnationen immer im Dienst des Ganzen und der Menschheit stehen würdest. Du hast dich diesem Versprechen vollkommen verpflichtet. Es schien mir, als stündest du erst am Anfang dieser Aufgabe, irgendwie enthusiastisch und so unschuldig.
Dann sehe ich dich heute, und du siehst so aus, wie du jetzt bist. Du bist alt und sehr müde, und du bist in einem dunklen Raum. Du selbst bist dunkel, und es gibt so viel Leid in dir und um dich herum. Das meiste davon ist das Leiden der gesamten Menschheit und der Schöpfung während all deiner Leben, und ein kleiner Teil davon ist auch dein eigenes menschliches Leiden. Es ist eine so schwere Bürde, du kannst sie fast nicht mehr tragen. Sie lastet so schwer auf dir, und sie ist so schmerzhaft. Ich bin irgendwie in der Situation anwesend und frage, was man tun kann. Aber es kommt keine Antwort. Doch dann höre ich plötzlich eine Stimme, die anfängt zu singen. Es ist die schönste Stimme, die ich je gehört habe, es könnte die Stimme eines Mönches sein, es könnten aber auch viele Stimmen eines ganzen Chores sein. Der Gesang ist so, so besonders, er könnte aus dieser Welt kommen, aus einer ganz anderen Welt oder aus allen Welten – er ist so rein, so klar und er scheint alles zu durchdringen”.
Leben für Leben geht die spirituelle Arbeit weiter. Wir setzen die elementare Arbeit des Fegens zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten fort – reinigen den Hof des Herzens und das Herz der Welt. Wir knüpfen an die Verpflichtungen an, die wir vor langer Zeit eingegangen sind. Und all dies erklingt im Lied der Seele – in dieser Musik, die alles durchdringt, auch wenn sie nur selten gehört wird.
Was ich zu erzählen versuche, ist eine Geschichte der Seele, die Leben und Tod ebenso umfasst wie Licht und Dunkelheit. Leider sind wir in unserer gegenwärtigen Kultur zu sehr in den Konstruktionen des Ichs und des Verstandes gefangen, um diese größere Landschaft zu erkennen. Wir sehen unser individuelles Leben als etwas Getrenntes und nicht als ein Sandkorn in einem Mandala voller verborgener Bedeutungen. Und doch ist unser Leben vergänglich, wie das tibetanische Sandmandala, das schließlich zusammengefegt wird, ist Teil eines Traumes, der sich schließlich auflöst.
Der Tod mag als “das große Unbekannte” bezeichnet werden, aber er ist nur eine weitere Etappe auf der Reise der Seele, die schon so oft in einer menschlichen Form geboren wurde, die dann wieder gestorben ist. Es ist ein Tor, das wir immer wieder durchschreiten, bis sich schließlich in einem Leben eine Öffnung zu einer Welt sogar jenseits der Welt des Lichts und der Liebe auftut – eine Öffnung in eine andere Dimension, die nicht der Anziehungskraft der Erde und ihren Reinkarnationsmustern unterliegt. Hier kann man sich endgültig im Größeren Licht auflösen, und jeder Anschein von Existenz geht verloren. Oder man kann die Reise in andere Dimensionen fortsetzen, wie ein Sufi-Meister sagt, “in einem glorreichen Lichtkörper von Loka zu Loka reisen”.7
Der Sufi-Pfad, dem ich seit mehr als fünfzig Jahren folge, zeichnet sich durch eine besonders fluide Beziehung zwischen den verschiedenen Welten aus. Kurz vor seinem Tod sagte Irina Tweedies Lehrer, Radha Mohan Lal, zu ihr: “Spirituelle Schulung, ich habe noch nicht einmal damit angefangen.” Sie war am Boden zerstört. Sie hatte alles weggegeben, ihre Ersparnisse, sich selbst. Doch Monate später, als sie sich im Gandhi-Ashram im Himalaya zurückgezogen hatte, begegnete sie ihrem Lehrer eines Nachts in der Meditation, nicht mehr als Mensch, sondern als Kraftzentrum auf den inneren Ebenen, und die Arbeit begann.
Das nennt man eine Uwaysi-Verbindung, eine Verbindung mit einem Lehrer, der nicht mehr in seinem physischen Körper inkarniert ist. Diese Art von Beziehung war für meine eigene Reise von zentraler Bedeutung. Als ich das erste Mal bei Frau Tweedie saß, war die Präsenz von Radha Mohan Lal wie ein unsichtbarer Duft in ihrem Zimmer. Drei Jahre später, an einem traumatischen Sommerabend, erweckte er mich auf der Ebene des Selbst, was einen vollständigen Bewusstseinswandel auslöste, der mein Leben veränderte. Danach konnte ich ihn in Träumen und in der Meditation erreichen und ihn später auch im Wachbewusstsein kontaktieren. Er führte mich auf dem Pfad, und als ich nach Amerika geschickt wurde, um dort zu lehren, gab er mir eine einfache Vision: “Die Hilfe des Gurus ist in deinem Herzen, das ist alles, was du wissen musst.”
Ich erinnere mich an eines meiner ersten Seminare, das ich gab. Es fand in einem Trailer auf einem Parkplatz in San Francisco statt, auf der “New Age Expo”, die voller seltsamer Stände war, wie eine “parapsychologische Safari”. Es schien ein unpassender Ort zu sein, um vom Pfad zu erzählen. Aber plötzlich, während ich sprach, erfüllte die Gegenwart meines Lehrers den Trailer. Seine Energie, seine Gnade gaben mir die Gewissheit, dass die Arbeit weitergehen würde, selbst an den unmöglichsten Orten.
Viele Jahre später fand ich in meinen Gebeten die Gegenwart anderer Meister dieses Pfades, und sie haben mich in schwierigen Jahren unterstützt. Nachdem ich meine Lehrtätigkeit beendet hatte, half mir Abdul Ghani Khan, der Lehrer von Radha Mohan Lal, meinen angeschlagenen spirituellen Körper zu heilen. Er erschien immer mit einer Qualität göttlicher Schönheit, die die Schönheit widerspiegelte, die er in dieser Welt verkörpert hatte. Wie Lilian Silburn beschreibt: “Er strahlte Güte aus, seine Stimme war sanft und melodiös … und besaß einen seltsamen Charme. In seiner Jugend war er von großer Schönheit und er hat diese Schönheit bis ins hohe Alter von sechsundachtzig Jahren bewahrt.”8 Ich weiß immer, wenn Abdul Ghani Khan innerlich präsent ist, weil ich diese Kombination von Liebe und Schönheit spüre. Auch andere Meister kamen zu mir. Unter ihnen war der große und ehrfurchtgebietende Meister Abdul Khaliq al-Ghujduvani, der Begründer unseres Pfades. Meistens waren diese großen Wesen nur eine stille Präsenz, aber ihre Liebe und Unterstützung gaben mir Halt. Sie halfen, eine Brücke zu schlagen zwischen dieser Welt und den unendlichen Weiten des Lichts, in die mich meine Reise geführt hatte.
Es kommt eine Zeit auf der Reise, in der es so befreiend ist, sich im Nichtsein zu verlieren und aufzulösen. Man möchte für immer in diesen inneren, kraftvollen Erfahrungen des Lichts und der Liebe bleiben und nicht mehr in die begrenzte Welt des Ichs und der Sinne zurückkehren. In dieser Phase muss man vorsichtig sein. Es ist wichtig, unter der Führung eines Lehrers zu stehen, der auch in den inneren Welten präsent ist. Er kann einen davon abhalten, sich völlig im Licht aufzulösen, und dabei helfen, die Aufmerksamkeit wieder auf die äußere Welt zu lenken. Dieses Drama war sehr zentral auf meinem eigenen Weg. In meinen frühen Jahren auf dem Pfad sagte mir Irina Tweedie, dass ihr Lehrer ihr mitgeteilt habe, dass mir bestimmte Erfahrungen nicht gegeben würden, weil ich eine Todessehnsucht hätte – eine tiefe Sehnsucht, in die formlose Welt zurückzukehren, die uns umgibt.
In den letzten Jahren sind meine Aufmerksamkeit und meine Präsenz viel mehr nach innen gelenkt worden. Soweit es mir möglich ist, lebe ich zurückgezogen und im Gebet. Ich habe schon lange keine Wünsche mehr und ich verstehe die Dramen und Schwierigkeiten des Lebens immer weniger. Was mich ruft, sind diese inneren Weiten, und ich weiß, dass ich in absehbarer Zeit frei sein werde für die Reise ins Jenseits des Jenseits, ohne die Notwendigkeit zurückzukommen. Neulich hatte ich die Erfahrung, in die Gegenwart der Meister geführt zu werden und dann auf eine offene Tür zuzugehen. Als ich hindurchschritt, befand ich mich in einem grenzenlosen Raum, und ich konnte mich bis zu den Sternen ausdehnen. Nicht mehr an die Grenzen dieser physischen Welt gebunden zu sein, war ein Gefühl von vollkommener Freiheit.
Der Tod ist ein Freund geworden und ein Ziel. Ich trage seine Gegenwart wie einen Magneten in meiner Seele – dieses Wissen um eine künftige Reise, ein Gefühl für ein inneres Ziel und die Weite, die wartet. Nun habe ich erfüllt, was die äußere Welt von mir verlangte. Vor Jahren wurde mir ein Becher geschenkt, auf dem stand: “Gott hat mich auf die Erde gestellt, um eine bestimmte Anzahl von Dingen zu tun. Im Moment bin ich damit so weit zurück, dass ich nie sterben werde”. Interessanterweise war dies der einzige Gegenstand, der im Laufe der Jahre aus unserem Haus gestohlen wurde, obwohl jede Woche über hundert Menschen für Meditation und Traumarbeit kamen. Aber jetzt weiß ich, dass ich getan habe, worum ich gebeten wurde. Ich gehe nicht mehr rastlos durch die Tage, ich bin auf einer Art Zwischenstation und beobachte die wechselnden Jahreszeiten dieser Welt, während ich darauf warte, sie zu verlassen.
Leben und Tod, Liebe und Licht, Leben um Leben, Glockenläuten zur Meditation. Es gibt die Zyklen der Natur, die ich jeden Tag beobachte – das “V” der Gänse, die hoch am Himmel nach Süden fliegen und mich an den Herbst erinnern, die Wachteln und ihre Küken im Garten, die mir vom Frühling erzählen. Aber die Zyklen der Seele sind anders, sie sprechen von Stille und Hingabe und in jedem Leben gilt es, eine andere Qualität zu verwirklichen. Ich habe viele Leben in Abgeschiedenheit verbracht, als Einsiedler in einer Hütte am Bach oder in Meditation hoch oben in den Bergen, manchmal nur mit ein paar Schülern. In diesem Leben hoffe ich, den Kreis vollendet zu haben – mit den Freuden und Leiden des Familienlebens habe ich bisher ungelebte Erfahrungen gemacht. Ich habe die Geburt eines Kindes erlebt und gesehen, wie sein Licht in die Welt kommt, ich habe die einfachen Freuden von Spielplätzen und Schaukeln genossen. In der heutigen Zeit ist es so leicht, sich in den Verzerrungen dieser Welt zu verfangen, und es ist schwer, dem eigenen ursprünglichen Herzschlag treu zu bleiben. Ich hoffe, dass ich die Lektionen meiner eigenen Seele gelernt habe, so dass ich mit einem leeren Blatt gehen kann.
Ich spüre, dass das Werk der Meister, das vor so langer Zeit begann, vollendet ist. Bald wird ihr Licht, und die Erinnerung an sie, verblassen. Diese großen spirituellen Wesen waren für mich eine innere Stütze, und noch immer hilft mir ihre Präsenz in einer Welt zu leben, die mir immer fremder erscheint. Aber alles hat seinen Zyklus, auf das Einatmen folgt das Ausatmen. Wir leben in der Zeit des großen Sterbens, des sechsten Massensterbens der Arten, in der selbst die heilige Natur der Schöpfung in Vergessenheit geraten ist. Aber wir werden erst in Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten verstehen, was das bedeutet. Wird es ein Urteil geben? Werden wir endlich beginnen, echte Verantwortung für die Erde, unser gemeinsames Zuhause, zu übernehmen? Und wie werden wir lernen, in dieser Zeit des Bardo zu leben – in diesem Grenzraum zwischen dieser Ära und der nächsten? Die Zeichen sind überall um uns herum, aber nur wenige kümmern sich darum oder können sie lesen.
Wir wissen nicht, welche Rituale es für eine zu Ende gehende Ära gibt. Ebenso wenig verstehen wir die Muster der Wiedergeburt, die Lieder, die notwendig sind, um das willkommen zu heißen, was neu geboren wird. Stattdessen versuchen wir, eine sterbende Zivilisation aufrechtzuerhalten, selbst wenn sie das Ökosystem zerstört und unsere Seele aushungert. Wir sind von einem Licht umgeben, das wir nicht sehen können, von einer allumfassenden Liebe, die nur wenige kennen. Vielleicht kann uns das Akzeptieren des Todes etwas über das Leben und die Zyklen der Regeneration lehren. Alles stirbt und wartet darauf, wiedergeboren zu werden. Entscheidend ist, sich des Augenblicks bewusst zu sein, des Raumes zwischen dem Einatmen und dem Ausatmen. Für den Menschen gibt es in jedem Atemzug einen Moment der Glückseligkeit, in diesem Augenblick zwischen Ein- und Ausatmen, in dem die Seele zu ihrer eigenen Ebene zurückkehrt. Für eine Ära ist dies ein Moment, in dem Magie wiedergeboren werden kann, in dem Wunder geschehen können. Aber nur, wenn wir anwesend sind – andernfalls werden wir in dieser wachsenden Einöde verharren.
Am Abend meines eigenen Lebens bewege ich mich in beiden Welten – im Leben und im Tod. Wie ich schon oft erwähnt habe, gibt es Samen um mich herum, die auf die Zukunft warten. Sie werden in der Dunkelheit keimen. Sie haben ihren eigenen Zyklus, der sich über Jahrhunderte erstreckt. Und so lebe ich und warte, während vor meinem Fenster die Flut steigt und fällt, der Sommer kommt und die Tage wärmer werden. Ich habe gerade die Tomatensetzlinge gepflanzt und frage mich, ob ich noch hier sein werde, um sie zu ernten, wie ich es in den vergangenen Spätsommertagen getan habe. Oder haben mich andere Dimensionen jenseits von Leben und Tod schließlich dorthin zurückgerufen, wo ich mich wirklich zugehörig fühle – wo diese Erde nur eine von unzähligen Welten ist, gehalten in einem Bewusstsein von unvorstellbarer Schönheit und Kraft.
©2024 The Golden Sufi Center, www.goldensufi.org
- Bryan Johnson, “46, ist ein millionenschwerer Tech-Unternehmer, der die letzten drei Jahre mit einem einzigen Ziel verbracht hat: nicht zu sterben.” Time Magazine, 20. September 2023.
- “Der Weise, der seine Sinne nach innen gerichtet hat, weil er Unsterblichkeit ersehnt, erreicht Brahman”.
- Und in jüngerer Zeit an die seltsam verzerrte Zwischenwelt aus Einsen und Nullen, die zu Computern und dem Internet gehört.
- 1 Korinther 13:12, Elberfelder Bibel 1932.
- Irina Tweedie, Der Weg durchs Feuer, Seite 210.
- Amo: ich liebe, amas: du liebst, amat: er/sie/es liebt.
- Oder man kann dem Weg des Bodhisattva folgen und in die Welt zurückkehren, um allen Wesen zu dienen.
- Lilian Silburn: A Mystical Life, Seite 71.