Transkript der Podcast-Reihe: Geschichten für eine lebendige Zukunft
 

von Llewellyn Vaughan-Lee

Eine grundlegende spirituelle Lehre lautet, im gegenwärtigen Augenblick zu leben, im Jetzt. Statt in unseren Gedankenmustern gefangen zu sein, für die Zukunft zu planen oder den Erinnerungen der Vergangenheit nachzuhängen, sind wir in der Intensität eines jeden Moments gegenwärtig. Auf diese Weise sind wir viel lebendiger. Das Bewusstsein für den Atem kann uns unterstützen, wach für jeden Augenblick zu bleiben. Wenn wir beobachten, wie der Atem kommt und geht, wie er sich hebt und senkt, sind wir immer im Moment. Meditationspraktiken sind auch eine gute Hilfe, uns aus dem unaufhörlichen Geplapper der Gedanken zu befreien und eingestimmt auf diesen lebendigen Moment zu sein, wo der Duft der Rose in ihrer Schönheit und ihrem Wunder ganz und gar Gegenwart ist und die Süße einer Erdbeere immer wie zum ersten Mal schmeckt.

Diese Übung führt zu der Einfachheit von dem, was ist, wie zu dem Moment im Zen, dem satori, in dem der leere Geist ein klarer Spiegel für alles ist, was uns umgibt – die Spinne, die ihr Netz webt, die Schreie der Wildgänse. Hier ist die Erfahrung dann leuchtend und flüchtig, eine Welt der Tautropfen.

Meine eigene Erfahrung hat mich dahin gebracht zu entdecken, dass das, was aus diesem lebendigen Augenblick geboren wird, eine völlig andere Bewusstseinsqualität besitzt als die der Anforderungen und der Starre des rationalen Bewusstseins. Zu Füßen meiner Lehrerin sitzend erfuhr ich, wie jeder Augenblick nicht nur die sinnliche Wahrnehmung der uns umgebenden Welt ist, sondern auch die Zusammenkunft der inneren und der äußeren Welt, wo „die Welt des Geheimnisses“, wie die Sufis sie nennen, die physische Welt der Sinne durchdringt. Dieses Zusammentreffen ist es, was jeden Augenblick völlig lebendig und auf unerwartete Weise numinos werden lässt. Hier werden die Träume geboren und die Liebe kommt in die Welt. Hier werden wir uns bewusst, dass alles, was wir sehen und berühren können, heilig ist.

Nur im Augenblick ist die ewige Dimension der Seele gegenwärtig, und auch die Liebe kann nur im Augenblick erfahren werden. Wie Rumi sagt: „Tritt aus dem Kreis der Zeit und in den Kreis der Liebe.“ Die Liebe gehört nicht dem Raum der Zeit an, deshalb ist sie immer für ewig. Das wahre Dienen kann nur gelebt werden, wenn man völlig wach für die Bedürfnisse des Augenblicks ist. Nur im Augenblick kann man in vollem Umfang am Leben teilnehmen. Hier, im Augenblick, geschieht es, dass die Geschichten der Zukunft geschrieben werden können, oder wie mein eigener Lehrer sagte: „Wir alle arbeiten für die Zukunft…aber nur der Augenblick des Jetzt ist entscheidend.“

Der Augenblick leugnet nicht die Vergangenheit und lehnt auch nicht die Zukunft ab. Jeder Moment enthält beides, aber auf eine Art, die nicht fest ist, die uns nicht einsperrt. Allein im gegenwärtigen Augenblick kann man die Muster beobachten, die die Zeit gewoben hat und darauf wartet zu weben wie die Jahreszeiten und das Strömen eines Flusses. In der zeitlosen Gegenwart gibt es viele Samen für eine Zukunft, die sich ereignen will, so wie es Geschichten aus der Vergangenheit gibt. Manchmal wird die Gegenwart von einem leeren Geist erfahren, manchmal bietet sie reiche Möglichkeiten. Die Vergangenheit enthält Erinnerungen der Seele, die wir brauchen, so wie die Zukunft uns zu noch nicht gelebten Träumen hinzieht. In jedem Moment liegen viele Möglichkeiten, was ich die Fäden der Liebe genannt habe, denen wir folgen können. Leider sind die meisten Leute aufgrund ihrer Denkmuster und Konditionierungen zu engstirnig, diese Fäden zu erhaschen und sich ihrer Möglichkeiten voll bewusst zu werden. Doch jene, die auf dieser Schwelle des Bewusstseins leben, können spüren, dass andere Geschichten gelebt werden wollen. In dieser Zeit unseres gemeinsamen Schicksals ist es von zunehmender Bedeutung, wach für diese Möglichkeiten zu sein und den nahezu verborgenen Pfaden zu folgen.

Im folgenden Beitrag versuche ich diesen verborgenen Pfad zu beschreiben und welche Eigenschaft von Bewusstsein es braucht, ihm zu folgen. Und warum das so wichtig ist…

 

EIN VERBORGENER PFAD

Die Jahreszeiten vergehen wie Blätter, die sich von Knospen zu einem Grün, zu einem Golden und dann zu einem Braun wandeln. Hier an der Küste ist der Sommer die Zeit für den Nebel, manchmal bricht sich die Sonne im Verlauf des Vormittags ihren Weg. Die Kitze sind noch klein und gefleckt und wagen sich mit ihren Müttern zaghaft vorwärts, während die Wachteln sorgsam ihre Kleinen beschützen. Diese einfachen Dinge machen Sinn, so wie die Reiher zu hören, wie sie in den Stunden vor der Morgendämmerung einander zurufen. Jenseits unserer kleinen Ortschaft scheint die Welt immer finsterer zu werden, der Krieg, der Klimawandel und die Schatten der sozialen Medien, Zwietracht, nicht mehr nur Streitigkeiten zwischen Nachbarn, sondern tiefe Gespaltenheit. Mein Gefühl, dass dies nicht immer so gewesen ist, entspringt nicht allein der Nostalgie eines alten Mannes, sondern den zunehmenden Brüchen in einer kaputten Welt. Das Ergebnis unserer Brutalität gegenüber der Natur und die Schatten ethnischer und sozialer Ungerechtigkeit.

Mit dem Älterwerden treibt mich nichts mehr vorwärts, vielmehr beobachte ich das Steigen und Fallen der Gezeiten und die Weise, wie sich die Welt verändert. Ich habe das starke Gefühl, dass es einen Weg durch diese sich verfinsternden Tage gibt, einen Pfad, der zur Liebe und unserem tiefsten Menschsein gehört. Aber ich ahne auch, dass nur wenige ihm folgen werden, da er beinahe unsichtbar ist, ähnlich einem unmarkierten Pfad durch eine Wiese voller Wildblumen. Es gibt ein Tor, aber es ist zerbrochen und überwachsen, fast ein Teil einer Hecke. Man findet es nicht auf Twitter oder TikTok, aber es gehört zu alten Geschichten. Manchmal magst du es im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung, im Moment des Zwielichts, klar erkennen, aber der Lärm und das Geschrei des Tages verdecken es.

Der Weg führt uns aus der derzeitigen giftigen Atmosphäre, fort von den zunehmenden Mustern der Zwietracht. Er spricht die Sprache der Seele – die Sprache unserer Träume und des Gefühls der Zugehörigkeit. Er ist wie ein Gedicht in einer Welt der Prosa, eine Farbe vom Rand des Regenbogens. Er löst nicht die Probleme unserer Gegenwart wie die Verringerung des CO2-Ausstosses oder das Ende der fossilen Energien. Träume sind nicht von der Art. Vielmehr verbinden sie uns mit einer anderen Geschichte, eine, die einer fernen Zukunft angehört und einer vergessenen Vergangenheit.

Man muss verstehen, dass dies nicht immer so gewesen ist, nicht immer eine Zeit der Eroberungen und des Warenverkehrs war. Es gab eine Zeit, als die Farben in der Luft sangen und wir wussten, wohin wir gehörten. Und unsere Herzen tragen diese Erinnerung in sich, auch wenn unser kleiner Geist es längst vergessen hat, auch wenn unsere Erinnerungen keinen Ort für eine andere Daseinsweise haben. Hoffentlich werden ein paar Menschen – es braucht immer nur wenige – diesen Pfad finden, durch das zerbrochene Tor gehen und über die Wildblumenwiese wandern. Dann werden sie anfangen sich zu erinnern, sich wieder mit dieser größeren Weisheit der Erde und ihrer eigenen Seele verbinden. Sie werden immer mehr einen flüchtigen Blick auf eine Zukunft werfen können, die nicht zerstört ist, und einen Weg erkennen, in diese Zukunft zu gehen.

Jetzt ist nicht die Zeit für Pläne oder Strategien, obwohl wir in unserer heutigen Denkweise nichts anderes kennen. Wir können es uns nicht leisten, uns auf irgendwelche Ideologien, Träume von einer grünen Zukunft oder den Mythos vom nachhaltigen Wachstum festzulegen. Leider entstammen diese „Lösungen“ derselben Mentalität, die dieses „Problem“ erzeugt hat. Wir wagen es nicht, uns klarzumachen, dass uns keine Lösung retten und unsere zerbrochene Welt reparieren wird, die wir uns geschaffen haben. Wenn eine Ära zu Ende geht, wenn eine Zivilisation stirbt, wenn ihre Lebensweise untragbar geworden ist, geht es nicht um ein Problem, das gelöst werden muss. Stattdessen müssen wir wieder eine Qualität der Aufmerksamkeit lernen, eine Weise des Zuhörens, des Fühlens. Wir müssen eine andere Sprache lernen.

Diese Denkweise ist fluider als unser rationales Bewusstsein, eher holistisch als linear, eine Art, sich zu erinnern, statt zu wissen. Es gab eine Zeit, ganz am Anfang, da sprachen wir dieselbe Sprache wie die uns umgebende Welt – die Vögel und die Tiere, auch die Flüsse und die Winde. Da waren wir Teil „der Großen Unterhaltung“ und aufmerksam für eine durch und durch beseelte Welt, zu der wir gehörten. Da waren wir mit den Baumgeistern verwandt und unsere Träume waren mit dem Land verwoben. Wir mögen viele der uralten Wälder abgeholzt haben, die Wiesen vergiftet, wo einst die Vögel gediehen und Wildblumen blühten, doch die Muster der Verwandtschaft sind in unserer DNA geblieben, in unserem Stammesgedächtnis. Wir sind nie wirklich von der Erde unter unseren Füßen getrennt worden, was auch immer uns beigebracht worden ist. Und so ist diese Art des Denkens und Seins weiter gegenwärtig, wie auch der Pfad, den wir wiederentdecken müssen.

Vielleicht werden in der Zukunft Eltern oder Schulen uns diese Sprache lehren, dieses ursprüngliche Wissen. Du kannst es nicht per Smartphone App oder über ein YouTube Video erlernen. Ich habe sie in den Jahren gelernt, die ich zu Füßen meiner Lehrerin sitzend verbrachte, ein Raum, wo die Welten zusammenkamen, die Geheimnisse des Herzens und die Dramen des Alltags. Sie findet sich auch in der alten Tradition der Sufi-Lehrgeschichten, in denen innere Geheimnisse durch einfache und oft humorvolle Situationen vermittelt werden. Diese Geschichten versuchen unser Bewusstsein weg von den uns einengenden Mustern zu verschieben wie in der gut bekannten Geschichte von Mullah Nasruddin, der fieberhaft auf der Straße nach etwas sucht. Als die Leute im Ort Hilfe anboten, fragten sie ihn, wonach er denn suche:

„Ich habe meinen Schlüssel verloren“, antwortete Mullah.

Nach einigem Suchen wollte jemand wissen, an welchem Ort genau der Schlüssel verloren worden war.

„Ich habe den Schlüssel im Haus verloren“, entgegnete Mullah.

„Warum suchst du ihn denn dann auf der Straße?“ war die naheliegende Frage an ihn.

„Weil hier mehr Licht ist“, meinte Mullah.

Die Geschichte erzählt die einfache spirituelle Wahrheit, dass der Schlüssel zu jeglicher tieferen Wahrheit nicht in der äußeren Welt gefunden werden kann, ganz egal, wie leicht es ist, dort zu suchen. Jahrhunderte später verweist die Geschichte treffend auf unseren gegenwärtigen Versuch, „den Schlüssel“ für die Lösung einer sich beschleunigenden Klimakrise im klaren Licht des rationalen Bewusstseins zu finden, wenn er doch darauf wartet, in einem viel weniger sichtbaren inneren Raum gefunden zu werden. Seit Jahrzehnten sind die CO2-Emissionen und steigenden Temperaturen wissenschaftlich belegt, aber das hat nichts an unserem selbstzerstörerischen Lebensstil geändert, dessen Wurzeln in der Kolonialisierung und Ausbeutung und einer fundamentalen Entheiligung der ERDE liegen.

Geschichten können über unsere gegenwärtigen Muster hinausweisen, und Sprache kann uns helfen, das Gebiet zu verdeutlichen, das wir erkunden müssen. Für viele indigene Völker ist ihre Sprache aufs Engste mit ihrem Lebensort verbunden und sie vermittelt oft detailliertes Wissen über Flora, Fauna, heilige Plätze und Traumpfade der Gegend. Auf meiner Reise hat es mich hingezogen, den Raum zu beschreiben, wo sich die innere und die äußere Welt treffen, eine Küstenlinie, wo Träume in unser Leben kommen, wo Synchronizitäten geschehen. Ich habe diese Sprache auch in der Natur wiederentdeckt, während ich auf den Pfaden in der Nähe meines Hauses umherwanderte, in den Bäumen, bei den Vögeln, in den Blumen und bei den Tieren, und erfahren, wie sie alle zu mir sprachen. Wenn die Natur das erste Buch der Offenbarung ist, dann waren dies hier die Geschichten aus dem Buch: die sich violett und weiß öffnenden Blüten des Fingerhuts oder der den Pfad kreuzende Luchs. Sie bekunden die lebendige Einheit überall; wie wir alle Teil einer mehr-als-menschlichen Welt sind, die in so vielen Stimmen spricht und dabei immer dasselbe sich ständig wandelnde Geheimnis ausdrückt, welches wir Leben nennen.

Bei meinem Schreiben habe ich versucht, diese Sprache einzubeziehen, ein verborgener Text, mit dem ich mich bemühe, unseren gegenwärtigen Traum zu entwirren: was zu der tieferen Geschichte dieses Augenblicks gehört und was nur der oberflächliche Lärm unserer Zivilisation ist. Es ist nicht einfach, diesen Faden zu fassen, wenn es doch so viele Ablenkungen gibt, so viel Geschrei nach unserer Aufmerksamkeit. Deshalb wird es immer schwieriger, einen Raum zu halten, wo man eingestimmt sein kann und hört und versteht, was das Leben uns mitteilen möchte.

Es ist jedoch äußerst lebenswichtig, dass dieser verborgene Faden in unserem Herzen und Geist gehalten wird, damit diese andere Geschichte nicht verloren geht, nicht völlig in Vergessenheit gerät. Trotz aller gegenwärtigen Erkenntnisse wissen wir nicht, wo wir hingehen. Sogar in der äußeren Welt mit all den Kipppunkten, die wir in unserer Umwelt noch auslösen mögen, haben wir kein genaues Verständnis der auf uns zukommenden Veränderungen, der Umschichtungen in den Landschaften unserer Welt. Wir können die Gefahren der zunehmenden Feuer und Flutkatastrophen sehen, aber das sind nur Anzeichen für ausgedehntere Umbrüche, da die Temperaturen weiter steigen und die Biodiversitätsmuster belastet sind und zerbrechen. Das rationale Denken hat uns stärker isoliert als uns klar ist, obwohl die natürliche Welt versucht uns zu warnen und zu erinnern, dass nichts getrennt ist. Die Wissenschaft wird uns nicht retten, und unsere Computer können die nahende Zukunft nicht modellieren. Mir fallen die Moken ein, das südostasiatische Seevolk, die auf den heranrollenden Tsunami mit ihrer Erinnerung an alte Geschichten reagierten und, als das Wasser sich zuerst zurückzog, ihre Boote ins tiefere Meer hinausbrachten und überlebten. Anders erging es den Fischern, die nicht achtsam für die Wellen waren, dicht an der Küste blieben und umkamen.

Die Moken waren völlig wach für den Augenblick, folgten ihren uralten Erinnerungen wie auch den kleinsten Veränderungen der Wellen. Dies ist eine Bewusstseinsqualität, die wir in unserer immer ungewisser werdenden Welt brauchen.

Es gibt einen Pfad, der uns durch diese sich verfinsternden Jahre hindurchführen kann. Er ist verborgen und doch sichtbar. Es gibt eine Bewusstseinsqualität, die darauf wartet, gelebt zu werden, damit wir sehen, wohin wir gehen, und es gibt eine Sprache, die wir erlernen oder wieder erinnern müssen, auf dass wir die Zeichen lesen können. Heute hat es, untypisch für die Jahreszeit, geregnet. Bald wird sich das Gras von golden zu grün färben. Ich frage mich, wie es für die Enkelkinder meiner Enkel sein wird. Haben wir ihnen geholfen, ihren Weg zurück in ein lebendiges Land zu finden oder werden sie durch ein Ödland gehen, das noch verwüsteter ist als unsere gegenwärtige vergiftete Umwelt?

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