Transkript der Podcast-Reihe:
Geschichten für eine lebendige Zukunft

Herzlich willkommen zu Geschichten für eine lebendige Zukunft. Dieser kurze Beitrag ist eine Art Intermezzo zwischen „Geschichten für eine lebendige Zukunft, Podcast-Serie 1 und der Serie 2 „Beobachtungen vom Rande der Welt“. Er befasst sich mit der Notwendigkeit, einen Raum zwischen den Geschichten zu halten, zwischen den bekannten und unbekannten Welten, einen Raum, der auch in jedem einzelnen Atemzug präsent ist.

 

Der Raum zwischen den Geschichten

 

Wenn wir den Atem beobachten, werden wir uns des ursprünglichsten Zyklus des Lebens bewusst. Der Atem ist der elementarste Rhythmus unseres Lebens. Mit dem Atem bringen wir lebenswichtigen Sauerstoff in unser Blut und unseren Körper. Wenn wir dem Atem folgen, richten wir uns auf diesen Lebenszyklus aus, der auch eine spirituelle Dimension hat. Der Atem ist die Brücke zwischen der äußeren physischen Welt und der inneren Welt der Seele. Mit jedem einzelnen Einatem rückverbinden wir uns mit der Seele, die dann in unseren Körper und mit dem Ausatem ins Leben fließt. Aus diesem Grund gibt es, wenn man sehr gewahr ist, am Ende eines jeden Einatems – in dem Raum zwischen Einatem und Ausatem – einen Augenblick der Seligkeit. Dann verbinden wir uns wieder mit der Ebene der Seele, dieser Dimension der Seligkeit und des reinen Seins. Dieser Augenblick, der außerhalb der Zeit ist, lässt sich am leichtesten in der Meditation erfahren, aber er ist im Zyklus eines jeden Atemzugs gegenwärtig.

Die Naqshbandi-Sufis betonen, dass der Atem das Fundament der inneren Arbeit ist. Mit den Worten von Baha ad-Din Naqshband: „Je mehr man in der Lage ist, sich seines Atems bewusst zu sein, desto stärker ist das innere Leben.“ Und man sollte sich auch der Momente zwischen den Atemzügen gewahr sein – insbesondere zwischen dem Einatem und dem Ausatem – bevor das Leben erneut von der inneren Ebene der Seele, der Ebene reinen Seins, in die Außenwelt fließt, dem Ort der zehntausend Dinge. Indem wir uns dieses Augenblicks bewusst werden, sind wir zwischen den Geschichten, zwischen den Mustern der Existenz, zugegen. Wir sind dann auf eine ganz andere Weise lebendig.

Zu diesem Zeitpunkt unseres kollektiven Schicksals befinden wir uns zwischen den Geschichten – zwischen der sterbenden Welt unserer globalen Kultur der Ausbeutung und des Konsumwahns und einer neuen Geschichte, die darauf wartet, ins Leben zu kommen. Und in diesem Raum wird unsere Aufmerksamkeit einerseits auf die sterbende Geschichte gerichtet, mit all den ökologischen Verwüstungen, die sie auslöst, aber auch auf die Möglichkeit einer neuen Erzählung. Wie wird sich die Zukunft entwickeln? Wie können wir den Übergang in eine lebendige Zukunft fördern, in eine ausgewogene, nachhaltige Lebensweise für die mehr-als-menschliche Welt, der wir angehören? Viel Arbeit steht in dieser sterbenden Welt an, wie zum Beispiel die CO2-Emissionen begrenzen und den Verlust an Biodiversität eindämmen. Und Modelle für den Wandel schaffen, Samen für die Zukunft, wie regenerative Landwirtschaft oder Möglichkeiten zur Wachstumsrücknahme. Aber es ist auch notwendig, den Raum zwischen den Geschichten zu halten, zwischen den Atemzügen, diesen Ort außerhalb der Zeit, diesen Ort reinen Seins.

Die äußere Welt der „zehntausend Dinge“ ist die Vielzahl und Vielfalt all der Dinge um uns herum, die ständig unsere Aufmerksamkeit fordern. Im Tao-te-king werden sie aus dem Tao geboren: „Das Tao erzeugt das Eine, das Eine erzeugt die Zwei, die Zwei erzeugt die Drei, und die Drei erzeugt die zehntausend Dinge.“ Und leider trennt uns diese Menge der täglichen Ablenkungen, die unseren Geist vernebeln und unser Leben zumüllen, vom ursprünglichen Gewahrsein des Lebens, vom Tao, vom Atem. Und ich denke, in unserer derzeitigen Welt sind die zehntausend Dinge zu zehn Millionen Dingen geworden, die Zerstreuungen in unseren Leben sind exponentiell angewachsen (besonders durch das Aufkommen der Sozialen Medien und das Online-Shopping), und wir verlieren uns immer mehr, verlieren die Verbindung.

Um uns ist eine in diesem Traum des Kollektivs gefangene Welt, die der zehntausend oder Millionen Dinge, von den grundlegenden Anforderungen des Lebens, wie zum Beispiel die Familie ernähren und die Rechnungen bezahlen, bis zu all den Ablenkungen, die uns zudecken. Hier sind auch die Ängste vor der Zukunft, sogar für die jungen Leute, die mit einer Öko-Angst konfrontiert sind und schreien, weil ihnen ihre Zukunft gestohlen wird. Hier können wir das Monster des Materialismus und der Gier sehen, wie Greta Thunberg es ausdrückt: „Jetzt haben wir wahrscheinlich nicht einmal mehr eine Zukunft. Weil diese Zukunft verkauft worden ist, damit eine kleine Anzahl von Leuten unvorstellbare Mengen von Geld machen konnte.“ In einer Welt ethnischer und sozialer Ungerechtigkeit, finanzieller Ungleichheit, zunehmender Klimakrise und ökologischer Verwüstung gibt es so viele Ängste. Wie sollen unsere Kinder und Enkelkinder in einer solchen Welt heranwachsen und alt werden?

Gefangen in diesen Gedanken und Gefühlen und diesen Verhaltensmustern trennen wir uns mehr und mehr von der Quelle, von der Seele und den grundlegenden Rhythmen des Lebens. Wir befinden uns in einer Kultur, die ihren Weg verloren hat. Von daher besteht ein vitales Bedürfnis, nicht nur eine neue Erzählung hervorzubringen – eine neue Art und Weise miteinander und der Erde und Ihren unzähligen Bewohnern umzugehen, die sowohl die Seele wie auch den Körper nährt – sondern auch fähig zu sein, diesen Raum zwischen den Geschichten, zwischen den Atemzügen zu halten. Sich dieses Ortes des reinen Seins bewusst zu werden, dieses Raums außerhalb der Rhythmen der Zeit und doch zutiefst verbunden mit dem Fluss des Lebens, dem Tao, mit dem, was heilig ist.

Hier, in diesem ungeformten Raum, werden die wahren Samen der Zukunft gehalten, aus denen die Träume der Weltseele geboren werden können. Nicht die dämonischen Träume einer technologischen Zukunft, einer Welt der künstlichen Intelligenz, nicht einmal die grünen Träume von Wegen in die Nachhaltigkeit. Sondern Träume, die frei von Mustern der Vergangenheit sind, herausgebildet aus den Traumpfaden der Seele und der Weltseele. Hier, in der hochgradigen Verletzlichkeit des Unbekannten, Ungeformten ist die Zukunft noch nicht geschrieben, birgt aber Möglichkeiten weit über die Bilder unserer Vorstellungskraft hinaus. Hier, in dem Raum zwischen den Welten, an dem Ort des reinen Seins, drückt sich die ungeformte, undefinierbare Natur des Tao aus, sein leeres Gefäß bringt neues Leben hervor.

Kehren wir in die Stille zurück, nehmen wir die Ruhe an, können wir in diesem Schwellenraum, in diesem Dazwischen, zugegen sein. Beobachten wir den Atem, können wir zwischen dem Einatem und dem Ausatem präsent sein. Zur Bewegung des Atems gehörend, zum Fluss des Lebens, können wir sowohl an seiner Quelle wie auch inmitten seiner vielen Manifestationen sein. Deshalb ist es so wertvoll inmitten all der Anforderungen der heutigen Welt in die Stille zurückzukehren, in einen Raum, wo die Zukunft geboren werden kann, frei von den Beschränkungen der Vergangenheit, nicht gefangen in den Hierarchien oder Machtdynamiken, die so viel von unserer gegenwärtigen Existenz bestimmen, unsere Zivilisation und ihre toxischen Handlungsmuster. Und nicht verführt von Zukunftsfantasien. Die Zukunft wird unangekündigt kommen, was zum Wunder des Lebens gehört, das sich selbst neu erschafft.

Wir haben vergessen, dass sich das Leben nicht durch unsere Bilder des Fortschritts bestimmen lässt oder von den Maschinen, die wir erfunden haben. Es ist ein Mysterium, das aus dem Ungeborenen heraus entsteht. Und wir sind Teil dieses Mysteriums, so wie unsere Seele Teil der Weltseele ist. Wir haben uns zu lange von diesem Mysterium abgeschnitten, so wie wir uns vom Boden unter unseren Füßen entfremdet haben. Aber mit jedem Einatem kehren wir zur Quelle zurück, so wie mit jedem Ausatem das Leben in die Manifestation fließt. Wir sind der Wind in den Bäumen und der fallende Regen. Wir sind nicht getrennt vom Leben. Und mit jedem Atemzug kehren wir zu diesem Kern zurück, zu dieser Essenz, diesem Ur-Geheimnis.

Um uns hetzt die Welt vorwärts, gefangen in ihrer selbstzerstörerischen Todesspirale. Wir bekommen kurze Einblicke, wie leicht ihre Strukturen zerbrechen könnten, sei es durch den Kopftuch-Protest, der mit dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ durch den Iran fegt, oder die Proteste, die in China gegen den Covid-Lockdown ausbrachen, wo Studenten „Die Freiheit wird siegen“ riefen oder auch nur weißes Papier in stummem Protest hochhielten. Autoritäre Führer, meist alte Männer, werden versuchen,  sich an ihre Geschichten von Macht und Unterdrückung zu klammern, aber das Leben hat seine eigene elementare Kraft, und die kommenden Jahrzehnte werden zeigen, wie diese Strukturen und ihre Hierarchien zerfallen.

Für jene, die keinen Hunger leiden oder im Krieg sind, die nicht um ihre Kinder bangen müssen oder an den Frontlinien der Proteste stehen, ist das jetzt die Gelegenheit, zu unseren Wurzeln zurückzugehen, mit Lao Tse ausgedrückt: „zum Ursprung zurückkehren heißt Stille.“ Hier, zwischen den Welten, wo es weder Handlung noch ein Fehlen von Handlung gibt, ist das Leben von seiner heiligen Natur durchdrungen, ist es nicht verschmutzt. Ohne unsere Gegenwart in diesem Raum wird dem Leben ein wesentlicher Bestandteil für seine Regeneration fehlen. Die Erde wird weiter bestehen, es ist ihr sechstes Massenaussterben jetzt. Aber seit unserer Ankunft hier hat unser menschliches Bewusstsein eine einzigartige Rolle in diesem Tanz der Schöpfung gespielt, in diesem Entfalten der Wunder, in diesem Mysterium des Lebens. Die meisten Menschen haben diese Weisheit vergessen, die in den Ursprünglichen Weisungen, die unseren Vorfahren gegeben wurden, ausgedrückt sind. Der Funke der menschlichen Seele und die Weltseele können sich miteinander entwickeln, unsere Reise zusammen mit der Erde kann Teil der globalen Transformation sein.

Außerhalb der Zeit, in dem Raum zwischen den Erzählungen, werden die Fäden dieses gemeinsamen Schicksals verwoben. Hier gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, aber ein sich entfaltendes Gegenwärtig, ein Mysterium, das sich unaufhörlich offenbart. Manchmal fühle ich mich, während ich in der Dunkelheit der gerade anbrechenden Morgendämmerung gehe, wenn das aufgehende Licht nur eine Ahnung über den Hügeln ist, diesem Mysterium zugehörig, diesem unbenennbaren Wunder. 

 

Dies war: Geschichten für eine lebendige Zukunft mit Llewellyn Vaughan-Lee. Danke fürs Zuhören. Nächste Woche wird der Vorspann für die Podcast-Serie 2 herausgebracht: „Am Rande der Welt“, und die folgende Woche dann die erste Episode der neuen Serie: „Beobachtungen vom Rande der Welt“.  

 

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