Transkript der Podcast-Reihe:
Geschichten für eine lebendige Zukunft

 

Im Vorfrühling geschrieben

 

Heute bin ich zu dem Geschäft mit dem Landwirtschaftsbedarf gefahren, um Pflanzerde für die über den Garten verteilten Blumenkübel zu holen, damit sie mit Pfingstrosen gefüllt werden – rosa, gelb, orange und weiß –, die nach dem Winter Duft und Farben zurückbringen werden. Und ich habe auch ein Glas lokalen Honig gekauft für mein Frühstück mit Haferbrei an diesen frühen Vormittagen, wo noch Raureif die Felder überzieht. Diese Dinge bringen mich zu dem zurück, was einfach ist, wesentlich, wie die Erde zwischen meinen Fingern zu spüren, wenn ich die Blumen einsetze. Sie erzählen von den Kreisläufen der Natur, die tief in den Grund und die Seele reichen und uns auf verborgene Weise nähren, ein regenerierender Ausgleich zu der Dystopie, die in unsere Welt eingesickert ist.

Zu lange bin ich zwischen den Welten gewandert, habe zu weit in die Zukunft geschaut und gesehen, wie eine Welt auseinanderfällt, und hatte Visionen von einer anderen, die inmitten der Trümmer geboren wird. Als der Lakota-Medizinmann Black Elk sah: „Der Ring des Volkes ist zerbrochen und zerfallen. Es gibt keine Mitte mehr und der heilige Baum ist tot“, wie sehr hat dieser „Tod eines Traums“ ein Wundmal auf seiner Seele hinterlassen? Er sah den Untergang seines Volkes, den Verlust ihres heiligen Zentrums. Wie hat er diese Vision, dieses von außerhalb der Zeit geborene Wissen getragen und später miterlebt, wie sie sich über die Jahre mit Blut und Tränen, mit dem Massaker von Wounded Knee erfüllte?

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte nur ein einfaches Leben führen, wie ich das in meinen Zwanzigern tat, Shakespeare unterrichten und Teenager in die Dichtkunst einführen. Samstags zum Markt gehen, im Garten arbeiten, Gemüse ziehen, im Herbst Tomaten und Kürbis kochen, meine Kinder und dann die Enkelkinder heranwachsen sehen und nichts von diesen ausgedehnteren Horizonten erfahren – simpler Austausch, wie in dem Geschäft heute Morgen oder dem Rotwild beim Grasen zuschauen, über die Pfade inmitten der Bäume zu wandern. Ich erinnere mich, wie ich, als ich noch jünger war, unsere Kinder zum Park brachte, wo wir Drachen hoch über London steigen ließen, und an Gute-Nacht-Geschichten. Das war das Blickfeld in meinem Leben, bevor die Visionen auftauchten, bevor die Dunkelheit zunahm.

Jetzt, als alter Mann, bin ich über die Maßen müde, weil ich zu viele Träume gestohlen oder zerstört sehe in einer Welt, in der die Jugend um ihre Zukunft bangt, um die Welt, in der sie wird leben, um das Land, über das sie wird gehen müssen. In einigen wenigen Jahrzehnten haben wir soviel Schönheit und Wildnis verloren, haben wir unser Erbe verkauft oder es uns rauben lassen. Wir haben den Ring zerbrochen, als wir den Boden, das Meer und die Luft verseuchten. Wir können uns nicht mehr darauf berufen, wir hätten es nicht gewusst, seien nicht schuld daran. Indem wir Auto fahren, fliegen, online-shoppen, Plastik und Palmöl verwenden, sind wir alle Komplizen in diesem Ökozid. Und im Land und der Seele ist eine tiefe Trauer, die mit dem zusammenhängt, was wir getan haben.

Die Endgültigkeit dieses Geschehens ist erdrückend. Es geht nicht nur darum, dass Land vergiftet wird, dass die Weltseele in Trauer ist, weil wir ihre heilige Natur unaufhörlich schänden. Nicht allein darum, dass die letzten Tage einer Ära der Ausbeutung, der ausschließlichen Profitgier angebrochen sind, sondern um einen viel tieferen, finstereren Schatten, den unsere Welt durchreist. In früheren Zeiten hätten Schamanen oder Medizinmänner wie Black Elk diesen Schatten in ihrer Trance oder ihren Visionen gesehen. Sie hätten zu denen, die nicht geboren und die nicht sterben werden, gesprochen, hätten einer unsichtbaren Welt zugehört und ihre Zeichen gelesen. Aber heutzutage wissen wir nichts von diesen Welten, auch wenn sie uns in unseren Träumen heimsuchen und Verschwörungstheorien nähren. Blind spazieren wir in eine Zukunft, ohne dem Wind zu lauschen, ohne Zugang zu den Welten zu haben, wo die Pferde singen.

Wie können wir Übergangsriten ohne unsere Träume vollziehen? Wie können wir in den nächsten Dekaden den Traumpfaden folgen? Die Geschichten in den Nachrichten sagen nichts über unser wirkliches Schicksal, sie wiederholen lediglich die Meme einer Zivilisation, die ihren Weg verloren hat, ihre Hysterie der Hashtags. Dabei entfaltet sich überall um uns herum eine Geschichte, die zum Teil in der sich beschleunigenden Klimakatastrophe sichtbar wird, die aber auch den tieferen Dimensionen unserer kollektiven Psyche und der Weltseele angehört. Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie die alte Geschichte von Imperium und Eroberung einer entmenschlichenden Finsternis Gestalt gibt – sinnloses Töten, Folter und Vergewaltigungen. Überall auf der Welt finden sich weitere patriarchale Geschichten von alten Männern in Machtpositionen, die aus Angst vor einer Zukunft, die sie nicht kontrollieren können, mit Gewalt Ideologien aufzwingen. Diese kollidierenden Kräfte sind weder politisch, noch sozial oder ökonomisch, sondern gehören zu der Art und Weise, wie Energie aus den Tiefen der archetypischen Welt aufsteigt, den Orten, wo einst die Götter wohnten. Doch wir sprechen nicht mehr von diesen Göttern oder hören auf ihre Geschichten. Wir leben auf der Oberfläche der Welt mit unseren Fantasien von einer Zukunft mit künstlicher Intelligenz und ohne Bewusstsein für den Boden unter unseren Füßen, ohne Gewahrwerden der wirklichen Veränderungen, die stattfinden.

Es gibt zwei Reaktionen auf diese herausfordernden Zeiten. Wie können wir Mauern gegen die steigenden Meere, gegen die hereinbrechenden Stürme errichten? Wie können wir die Massenzuwanderung und all die Klimaflüchtlinge aufhalten, die über die Kontinente strömen werden und die als Bedrohung unserer Lebensweise gelten? Oder wie können wir mit den eintretenden Veränderungen gehen und keine Mauern oder Bunker bauen, sondern mit den Energiemustern des Lebens zusammenwirken, wenn sie sich wandeln und unsere Welt verändern? Vielleicht ist das zu bedrohlich für jene, die durch alte Muster der Kolonialisierung und Kommerz zu Wohlstand gekommen sind, aber es ist nicht zu simpel zu sagen, dass du, wenn du dich nicht veränderst, sterben wirst – du wirst zu einer sterbenden Welt gehören, zu einem sich zunehmend verfinsternden Ödland.

Bei meinen Wanderungen zwischen den Welten habe ich die Grundmuster beobachtet, die zu dieser sich verändernden Landschaft gehören, diese Kräfte, die sich wie weitab von der Küste aufbauende Stürme konstellieren. Ich weiß, dass wir trotz unserer Kontrollmechanismen, unseres Glaubens an die Wissenschaften und Technologien diese Veränderungen nicht aufhalten können, da sie zur Energie des Lebens selbst gehören, die jetzt in neue Flussbetten, in neu entstehende Muster strömt. Die Trauer, die ich empfinde, rührt daher, dass ich Zeuge bin von unserem Widerstand gegen diese Veränderungen, wie auch von unserem Leugnen des Klimawandels und dem Fehlen einer Begrenzung des Wachstums, was in den letzten Jahrzehnten das fragile Netz des Lebens zum Reißen gebracht hat und die Erde schreien lässt.

In meinen neueren Beiträgen habe ich angedeutet, dass es eine Möglichkeit gibt, mit diesen Veränderungen zu arbeiten, einen Pfad zu betreten, der aus unserer derzeitigen Ödnis in eine lebendige Zukunft führt. Mir ist klar, dass nur wenige diesem Weg folgen werden, weil er zu einfach, zu natürlich und von daher leicht zu übersehen ist. Er kann nicht auf den sozialen Medien wie TikTok oder Twitter gefunden werden. Er ist keine Lösung eines Problems, denn die lebendige Erde ist kein Problem, das zu lösen gilt, eher weist er darauf hin, sich wieder mit dem zu verbinden, was bereits um uns herum da ist. Es ist ein Weg, der organischen Beschaffenheit des Lebens zu vertrauen, dieser Qualität, die in unsere Träume wie auch in unsere Sinne eingewoben ist. Es gibt die grundlegende Überzeugung, dass sich das Leben selbst erneuern kann, indem es uralten Mustern folgt, die auch zu unserer Zukunft gehören – die einfache Einsicht, dass wir alle Teil eines einzigen, lebenden Ökosystems mit einer eigenen Intelligenz sind. Wir sind, entgegen unserer früheren Glaubensmuster, weder besser, noch übergeordnet, noch getrennt von der Welt um uns herum, und wir können es uns nicht länger leisten, uns dem lebenden System, welches wir Erde nennen, aufzuzwingen. Wir müssen von neuem lernen, den Flüssen und dem Wind zu lauschen, das Gras wachsen zu hören. Und wir müssen das Tor zu den visionären Welten öffnen, die unsere Vorfahren leiteten und von denen wir uns schmerzlich ausgeschlossen haben. Wir müssen wieder lernen, in beiden Welten zu wandern – auf dem Boden unter unseren Füßen und an den Orten, wo die Pferde singen, wo die Traumpfade sind, wo das Heilige zu uns spricht, wie es zu unseren Ältesten gesprochen hat.

Ja, wir werden durch das Schattenreich unserer Gier ziehen müssen, der Dunkelheit, die wir erschaffen haben mit unserem endlosen Verlangen, das nicht Sorge trug für das Wohlergehen anderer oder der Erde. Wir werden den Preis dafür bezahlen müssen, dass wir das heilige Wesen der Schöpfung vergessen haben. Es kann nicht anders sein. Aber wie lange wir im Winter unserer Welt zu warten haben, hängt davon ab, wie wir auf die bereits geschehenden Veränderungen antworten. Der Frühling wird kommen, eines Tages wird er da sein, und die Farben werden sich wieder zeigen, numinos und vibrierend. Aber wir werden nicht dem Verfall einer Zivilisation entgehen können, die alles versucht hat, die Welt mit ihrem Bild vom Fortschritt zu versklaven, dieser Maschinerie, der wir huldigen.

In den zeitigen Frühlingstagen waren die Narzissen, die ich im Herbst gesetzt hatte, die ersten Blumen, die blühten, strahlendes Gelb quer durch den Garten. Dieses einfache Fest der Farbe berührte mich, rief mich, glich die dunklen Träume aus, die ich beschrieben habe. Wenige, sich zur Sonne hin öffnende Blüten, teilweise mitgenommen durch die Frühlingsregengüsse, antworteten auf das, was ungesagt war – sprachen die einfache Wahrheit von der Schönheit und Regenerationskraft des Lebens aus. Ich werde nicht so lange hier sein, um den Großen Frühling zu erleben, noch werden es die Enkelkinder meiner Enkelkinder. Aber ich kann lernen, mit leichteren Schritten durch diese immer finsterer werdenden Tage zu gehen in dem Wissen, dass wir alle Teil eines Mysteriums sind, so ungeheuer viel größer, als der kleine Geist das jemals zu fassen vermag. Dann ist jeder Schritt heilig, auch wenn der derzeitige Winter wenig Anzeichen für die Wende zum Frühling zeigt.

 

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