Transkript der Podcast-Reihe:
Geschichten für eine lebendige Zukunft

 

Am Rande der Welt ist das Wasser kalt und die Unterströmungen sind heftig. Wildgänse fliegen hoch droben, während eine Reihe von Pelikanen über die schäumenden Wellen streift. So wie es Strömungen weit draußen auf See gibt, so gibt es auch Strömungen über dem Land, Stürme, die sich aufbauen. Es war einmal eine Zeit, da gab es Menschen, die sich damit befassten, diese Strömungen zu beobachten, nicht Seeleute nur, die schauten, wie der Wind ihre Segel füllt, sondern Einzelne in tiefer Meditation, denen es möglich war, die Strömungen über die Kontinente hinweg zu beobachten, wie sie flossen, wie ihre Muster sich über die Zeit wandelten.

Aber die Leute sind nicht mehr für diese Arbeit geschult, nicht länger fähig, zu beobachten und zu bezeugen, zu sehen, wie sich Kräfte konstellieren, was weit hinter dem Horizont ist und was nahe dem Land. Unsere Regierungen treffen Entscheidungen nach Computerprognosen und Plänen für dauerhaftes Wirtschaftswachstum. Aber das Leben ist nicht so, es ist dunkler, herausfordernder wie auch voller Quellen der Freude und Hoffnung. Schamanen konnten in ihrer Trance sehen, wo der Kreis unterbrochen war, und wie sie die Risse beheben konnten, die wir dem Netz des Lebens zufügen. Sie konnten erkennen, wie sich Ereignisse zu konstellieren beginnen, bevor sie sich manifestieren, etwa sich aufbauende Stürme. Aber jetzt laufen wir blind durchs Leben, verfolgen zwar all die schnellen Nachrichtenzyklen, bleiben jedoch ohne wahre Erkenntnis. Wir schaffen es vielleicht, das Wetter vorherzusagen, haben aber nur wenig Ahnung von den Kräften im Leben selbst.

Am Rande der Welt ist es einfacher, die Fäden zu sehen, die in die Welt eingewoben werden, das Licht und die Dunkelheit und die verschiedenen Farben. Man kann diese Fäden bis tief hinein ins Gewebe des Lebens verfolgen, wie wir in der äußeren Welt einhergehen und wie unsere Füße auch die innere berühren. Es gibt Öffnungen zwischen den Welten, wo viele unterschiedliche Fäden zusammenkommen, Orte der Kraft und der Möglichkeiten. Manchmal bleiben diese Orte Jahrhunderte lang an einer Stelle und sind sichtbar als kosmischer Berg, wo sich Himmel und Erde treffen, oder Steinkreise, Tempel oder Orakel. Manchmal bewegen sie sich umher, folgen alten Traumpfaden. Sie können nicht auf GPS kartiert werden, aber durch Träume und Intuition erfasst, dieses tiefe Wissen über das, was heilig ist.

Wenn auch jeder Moment in sich selbst vollständig ist, so gibt es doch Augenblicke in der Zeit, die eine tiefere Bedeutung, eine größere Tragweite haben. Wie Shakespeare es ausdrückt: „Es gibt Gezeiten für der Menschen Treiben.“ Wir kennen das aus unserem eigenen Leben, dass es Zeiten gibt, die eine größere Wirkmächtigkeit haben als andere, und sie gehen oft einher mit Synchronitäten und unerwarteten Gelegenheiten oder unvorhergesehenen Schwierigkeiten. Dasselbe gilt für das Kollektiv, „der Menschen Treiben“. Wenn wir beobachten, wie sich Kräfte und Ereignisse konstellieren, beobachten wir diese Gezeiten, wie sie strömen, wie solche Momente eine größere Aufmerksamkeit erfordern oder eine höhere Intensität des Betens. Zeit ist nicht linear, wie es uns unsere heutige Kultur glauben machen will, sondern sie hat Muster, Zyklen, Jahreszeiten. Unsere Aufmerksamkeit für diese Muster führt zu einem besseren Verständnis für die Geschehnisse in unserem eigenen Leben und in der Welt um uns herum. Sie können sich entscheidend darauf auswirken, wie die Zukunft geschrieben wird.

Wir leben in einer Zeit, in der viele verschiedene Kräfte zusammenkommen, teils sichtbar, teils verborgen. Wir können ihre Auswirkungen in den jüngsten Ereignissen sehen – die Pandemie, der Ukraine-Krieg, der sich beschleunigende Untergang der Artenvielfalt, der seltsame Tanz von Extremisten und Leugnern. Aber wir müssen diese Ereignisse zu ihrer Quelle zurückverfolgen, doch nicht zum Ursprung des Virus oder zu den Ursachen des Kriegs, sondern zu den Kräften, die diese Ereignisse ausgelöst haben, und erkennen, was sie bedeuten und welches Muster sie zur Aufführung bringen. Und wenn möglich können wir diese Kräfte ausgleichen, jedoch nicht durch einen Impfstoff oder neue Waffen, sondern durch ein tieferes Gewahrsein, das mit dem Beobachten der Strömungen zusammenhängt, mit den Wellen, die sich weit draußen auf See aufbauen.

Warum ist das Gewebe unserer Gesellschaft so gespannt, fast schon zerrissen? Warum gibt es Gegenden, wo keine Vögel mehr singen? Welche Erzählungen soll man glauben und welche entspringen ungelebten Träumen, die an die Oberfläche kommen und sich wieder auflösen? Manchmal wundere ich mich über unsere Kultur, die so viel weiß und so wenig Wissen hat. Die mit einem Mikroskop sehen kann, aber nicht mit dem Herzen, die so viele Statistiken hat, aber so wenig Erkenntnis. Das Leben war immer schon ein Tanz zwischen den inneren und äußeren Welten, erfahren in Träumen und durch unsere Sinne. Aber jetzt gehen wir durch eine Welt, die nur sieht, was greifbar ist, sogar wenn es in endlose Fantasien und Verschwörungstheorien eingepackt wird, und erleben einen schrecklichen Krieg, der auf dem Mythos von einem verlorenen Imperium basiert.

Letztes Jahr, als der Ukraine-Krieg begann, wusste ich, dass es mehr war als nur Raketen, Tragödien und Tränen. Als ich in der Nacht, als die ersten Bomben fielen, aufwachte, war für mich klar, dass dies das Ende unserer Lebensweise, wie wir sie bisher kannten, war – sogar hier, in unserer kleinen Gemeinde dicht beim Ozean, eine halbe Welt entfernt, wo die einzige Gefahr darin besteht, Rotwild auf der Straße zu begegnen, wie heute Morgen, als ich für zwei von der Mutter getrennte Kitze bremste. Von der Beobachtung der sich über Monate aufbauenden Finsternis ausgehend, war dieser Krieg unvermeidbar, selbst wenn er eine solche Katastrophe ist und niemand weiß, wie er enden wird.

Wieder einmal ist der Faden kollektiver Gewalt in unsere Leben eingewoben worden, aber dieses Mal breitet sich sein Schatten, seine zunehmende Finsternis über die Welt aus: Millionen sind von Hunger bedroht, noch nie dagewesene Energiepreissteigerungen treffen Europa, Rationierungen und ein eisiger Winter. Und was heißt das, wenn die Hälfte unserer Welt die Geschehnisse leugnet und in den Nachrichten die Bilder von Raketen, die Wohnhäuser zerstören, und Leichen von toten Zivilisten zeigen, zensiert und stattdessen Unwahrheiten verbreitet? Wir sind womöglich immun dafür geworden, dass „Fake News“ zur Verteidigungsstrategie von Autokraten gehören, aber diese Ausschaltung der Wahrheit spaltet unsere Welt in Licht und Dunkelheit, Wahrheit und Lügen, Freiheit und Unterdrückung. Hier gibt es keine Feinheiten, kein Grau, aber eine beabsichtigte Polarität. Das ist wirkliche Spaltung, nicht diese Pantomime der Kulturkriege. Hier geht es um wirkliche Freiheit und nicht um diese Klagen über den Verlust bürgerlicher Freiheiten, die die sozialen Medien füllen.

Wie viele noch werden sterben müssen, bis dieser derzeitige Zyklus endet? Und was bedeutet das für unsere kollektive Seele, für unsere kollektive Zukunft? Für die Mutter, die ihre Kinder verloren hat, für das Kind, das seine Eltern hat sterben sehen, ist es eine mit Blut geschriebene Tragödie. Und für die Freiheit und für die Wahrheit? Wird ihr Licht diese Verfinsterung überleben? Oder ist die Wahrheit etwas, das wir bereits verloren haben inmitten all der Verschwörungstheorien und Lügen über gestohlene Wahlen, ein Verlust, der sich jetzt wieder in menschlichem Leiden ausdrückt? Können wir unseren Weg zurück finden? Oder wird diese Gewalt nur einen weiteren Pfad der Tränen zurücklassen, mehr Wut noch, über Generationen weitergereicht?

An dieser Küstenlinie stehend, beobachte ich die Wellen und versuche über den Horizont hinaus zu schauen, um diesen dunklen Faden zu erkennen, der in unser kollektives Schicksal eingewoben wird, verwirkt mit Sorge und Hoffnung, verwirkt mit der Freundlichkeit von Fremden, selbst dann, wenn die Bomben fallen und Millionen von Flüchtlingen unterwegs sind. Es gibt noch andere Fäden – zum Beispiel den Faden tiefer Liebe, der sich durch alle Dinge zieht, die unmittelbarste Verbindung zwischen Schöpfer und Schöpfung, die Liebesgeschichte, die das Leben selbst ist. Das ist die Energie, die Macht, die jede Zelle und jeden Stern hervorbringt, die die Atome und Galaxien sich drehen lässt, wie auch die süße Sanftheit der Berührung durch eine Mutter oder das werbende Singen einer Feldlerche vor Morgenanbruch bis weit in die Abenddämmerung.

Und da gibt es jetzt noch den Faden unseres erwachenden Bewusstseins für die ursprüngliche Einheit des Lebens und die wechselseitigen Beziehungen der Natur. Wie wir mit dem Gesamt der Schöpfung verflochten sind. Was unsere Vorfahren instinktiv wussten – die nicht nur die körperlichen Verbindungen, sondern auch den einen Geist wahrnahmen – kommt auf neue Weise wieder zu uns zurück, was wir brauchen, wollen wir gemeinsam mit der Erde reisen. Und ein weiterer Faden erzählt uns die Geschichte, wie wir am Ende einer Ära sind, gefangen in sterbenden Träumen und der verseuchten Landschaft einer selbstzerstörerischen Zivilisation. Und dann natürlich der Faden, den ich in all diesen Geschichten beschreibe, dieser Faden eines halb verborgenen Pfades, der uns in eine lebendige Zukunft zu führen vermag. All diese Fäden werden miteinander zum sich ständig wandelnden Teppich des Lebens verwoben, zu Bildern, die uns umgeben und Sinn spenden und uns helfen können, die entstehenden Muster einer neuen Daseinsweise zu erkennen.

Ich lebe am Rande der Welt, gehe am Meeresrand entlang oder sitze in tiefer Meditation. Ich versuche den Fäden unseres tieferen Schicksals zu folgen, zu sehen, wo die Flüsse klar fließen und was die Zeichen sind, die unsere Aufmerksamkeit benötigen. Wo werden unsere Gebete gebraucht? Die Entscheidungen, die wir jetzt und in den wenigen uns dafür bleibenden Jahren treffen, werden unsere Zukunft für sieben Generationen oder mehr bestimmen, vielleicht sogar für kommende Jahrhunderte. Wir sehen das in den möglichen Auswirkungen der Klimakrise, die mit steigenden Temperaturen und Hitzewellen bereits ihre Auswirkungen auf unser alltägliches Leben zeigt. Wird die Temperatur um 1,5°C steigen ( die sogenannte Leitplanke für den Klimawandel) oder um mehr als 2°C, wie einige vorhersagen – und einige Wissenschaftler bedrohlich äußern, das sei schon „programmiert“? Und was würde das für das menschliche Leben und auch für die Biosphäre bedeuten, von der wir Teil sind? Können wir noch einen gefährlichen alles umfassenden ökologischen Zusammenbruch vermeiden und hätte das auch einen sozialen Kollaps zur Folge? Wie ich über die letzten Jahre dargelegt habe, ist die Klimakatastrophe nur ein Element der von uns geschaffenen Welt, dieser Zivilisation, die ihre Verbindung zur heiligen Natur der Erde verloren hat, zu diesem Fundament, das uns über Jahrtausende gehalten hat. Der kommende Zehnjahreszeitraum wird darüber entscheiden, ob künftige Generationen ein inneres und äußeres Ödland erben, auch wenn wir gegenwärtig noch keine Modelle oder Wissen darüber haben, was das bedeuten könnte.

Dies ist ein Moment, eine Dekade, die Einfluss auf unsere zukünftigen Generationen hat – nicht durch steigende Temperaturen allein, sondern durch eine Qualität des Lebens, die die Seele betrifft. Wir müssen sorgsam gehen, mit einem Bewusstsein dafür, wo wir unsere Füße hinsetzen. Wir müssen nicht nur für den gegenwärtigen Augenblick wach sein, sondern auch dafür, wie sich Ereignisse über die Zeit entfalten. Was in den Geschichten von heute erzählt wird. Was mehr und mehr Illusionen oder Ablenkungen sind, und was einen tieferen Sinn enthält und mehr Aufmerksamkeit braucht.

Die Seevögel schreien und das Salzwasser füllt die Gezeitentümpel. Am Rande der Welt gibt es viel Stille mitsamt dem Geräusch der Wellen. Viele der Kräfte, die die Geschichten von heute erzählen, haben sich seit Jahrzehnten, sogar seit Jahrhunderten herausgebildet, aber da gibt es auch eine Lücke in den Wolken, die meine Aufmerksamkeit auf eine andere Daseinsweise lenkt. Ist es genug, diese Kräfte nur zu beobachten, diesen Fäden zu folgen? Mich zieht es nicht besonders zu Aktionen, weil mir reines Gewahrsein mehr liegt. Zwietracht erhöht nur den Lärm des Dramas, und ich bevorzuge die Stille. Ich hoffe, dass ich, indem ich diese Geschichten erzähle, auf einen Weg hinweisen kann, mit dem Herzen und der Seele zu sehen, die alte Sprache vom Land und von ihrem Träumen wiederzuentdecken. Seefahrer mussten über die Strömungen im Ozean wissen und Schamanen, wie die innere und die äußere Welt zusammenkommen. Es gibt eine Art zu beobachten und zu horchen, zu sehen, wie der Zweig sich im Wind biegt, wie die Wolken über den Himmel ziehen. Es gibt eine Notwendigkeit zu erfassen, wie sich die Kräfte in unserer Welt konstellieren, dieses subtile Zusammenspiel von Ereignissen. Der Krieg und die Pandemie sind keine Einzelereignisse, und es wird keine Rückkehr dahin geben, wie die Dinge gewesen sind. Es gibt eine Weisheit, die wir aus diesem Beobachten brauchen, dieses Gewahrwerden der sich konstellierenden Kräfte und der Orte, an denen das Leben sich erneuern kann. Wo Freude gegenwärtig ist und das Sonnenlicht sichtbar durch die Wolken.

 

 

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