Transkript der Podcast-Reihe:
Geschichten für eine lebendige Zukunft
Der gegenwärtige Augenblick ist überall um uns, wenn auch meist verborgen, zugedeckt von unseren Gedanken und den Tagesabläufen. Ich versuche ihn frühzeitig zu erfassen, oft im Zwielicht, bevor die Welt erwacht, während ich beobachte, wie sich die Farben am Himmel verändern. Oder in dem weichen Licht des Abends, wenn die Streifenhörnchen langsamer zu huschen scheinen, und ich manchmal Eulenflügel sehen kann, die sich zwischen den Bäumen bewegen. Es ist so leicht, diesen Augenblick zu verlieren, zu dem zurückzukehren, was uns der Verstand erzählt, zu all diesen Dramen der Welt, zu den Hoffnungen und Ängsten. Aber dann, wenn ich eine reife Tomate im Garten pflücke und ihre Süße schmecke, ist dieser Augenblick zurück, schlicht, vollständig.
Ich denke, kleine Kinder leben meist im Augenblick, bis ihnen beigebracht wird zu vergessen, bis sie angefüllt werden mit der Welt ihrer Eltern und erfahren, dass Zeit abläuft, es Uhren und Kalender gibt. Aber der Augenblick ist nicht so. Die Zeit verläuft hier auch, in dem Steigen und Fallen der Gezeiten im Feuchtland draußen vor meinem Fenster, oder den vorbeiziehenden Wolken, durch die die Sonne immer wieder durchscheint. In diesem Fließen vergehen Augenblicke, doch sie bleiben ohne Fragen, ohne Antworten.
Letzte Woche mussten wir den Busch der wilden Rose stutzen, die dabei war, den Zaun zu zerbrechen. Wir wollen die Rehe und Hirsche vom Garten abhalten, sonst gibt es keine Rosen oder Farben mehr. Sie ist unbemerkt herangewachsen. Wenn man einen Garten hat, gibt es immer etwas zu jäten, zu pflegen, zu mulchen, zu beschneiden. Trotzdem wächst manchmal eine Pflanze, ohne dass es jemand merkt, und kehrt zu ihrem wilden Selbst zurück. Wenn wir im Augenblick gegenwärtig sind, ist das eine Übung oder eine natürliche Seinsweise? Oder haben wir das, was vor langer Zeit so selbstverständlich war, verloren, dass wir bewusst dahin zurückkehren müssen?
Den Atem zu beobachten, sein Steigen und Sinken, sein Kommen und Gehen, ist der einfachste Weg, um gegenwärtig zu sein. Man kann nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft atmen, hier gibt es keine Gedanken, nur einfaches Gewahrsein. Für manche ist das ein Gewahrsein des Körpers, der Empfindungen und Gefühle. Aber der Atem birgt auch ein Geheimnis, lange bekannt in der spirituellen Praxis. Der Atem verbindet die Welten miteinander – die äußere Welt der Sinne und die innere Welt der Seele. Mit jedem Einatem kehren wir zu unserer Seele zurück, bis der Ausatem uns wieder in die äußere Welt zieht. Geheimnis über Geheimnis, mit jedem einzelnen Atemzug.
Während unsere Kultur rastlos ist und voller zahlloser Aktivitäten, die den ursprünglichen Rhythmus des Lebens nicht achten, bringt uns der Atemrhythmus immer zurück zu diesem Ur-Rhythmus und Ur-Fluss, dem Kommenlassen, dem Gehenlassen und dem Warten. Wenn wir für das Atmen nicht unsere Willenskraft einsetzen, sondern geschehen lassen und uns diesem natürlichen Rhythmus hingeben – einatmen, ausatmen und der oft nicht beachtete Zwischenraum vor dem nächsten Einatem – dann kann uns der Atem zurück in Harmonie mit dem Leben bringen und zur Brücke zwischen Geist und Materie werden, wobei er die Essenz der Seele auf die schönste und sinnvollste Weise in die Schöpfung webt.
Und so enthält der lebendige Augenblick sowohl die physische Welt der Sinne wie auch das Mysterium der Seele und ist eine Dimension voller Sinn und spiritueller Geheimnisse. Es ist bedauerlich, dass unsere rationale Kultur so viel von dieser inneren Welt zensiert hat, ihre Symbole und ihre heilige Bedeutung. Dadurch kann der Augenblick nicht mehr atmen, ist im Ausatem gefangen und singt nicht mehr. Wenn ich im Abendlicht zwei Falken auf einem Ast sehe, wird etwas in mir berührt; es erinnert mich an die elementare Welt der Symbole und Zeichen. Ich gebe mir keine Mühe, das zu verstehen, sondern gestatte mir vielmehr, dass mir begegnet wird, dass in dieser ursprünglichen Sprache zu mir gesprochen wird. Das hilft mir, mich in einer Welt zu Hause zu fühlen, die mir immer fremder wird.
Dann ist es nicht schwer, sich an eine Welt zu erinnern, in der wir in ständiger Kommunion mit dem Innern gingen, als Symbole noch lebendig waren und das Heilige zu uns sang. War es der Fortschritt, der uns dieses elementare Verbundensein vergessen ließ? Ist er Teil unserer Reise der Trennung, die uns so weit von der Quelle weggeführt hat? Bin ich im Augenblick gegenwärtig, gibt es weder Fragen noch Antworten, diese gehören zu meinem denkenden Verstand. Einfaches Gewahrsein ist anders, eher ein Zustand des Seins.
Dies sind die ausklingenden Tage des Spätsommers. Der Garten hat jetzt weniger Farben, die letzten gelben und rosa Blüten der Rosen. Die späten Kürbisse blühen noch. Die Äpfel und Tomaten färben sich rot. Mein einziger in die Zukunft gerichteter Gedanke ist, ob die beiden Krähen wieder alle unsere Äpfel anfressen werden, bevor sie ganz reif sind, wie das im letzten Jahr der Fall gewesen ist. Bald werden die Jahreszeiten wechseln und eine andere Textur haben. Hoffentlich kommt Regen. Stürme werden dann über den Pazifik hereinrollen, wilde Nächte bringen. Ich schätze mich sehr glücklich. Ich habe ein dichtes Dach über dem Kopf, ein warmes Bett und Essen im Kühlschrank. Ich weiß, dass eine halbe Welt weg, wo sich der Krieg in die Länge zieht, die Augenblicke grausamer sind, unmenschlich, voller Schmerz und Tränen, aber auch voller Mut und Hilfsbereitschaft. Und dies alles wegen einer alten Geschichte der Eroberung und Kontrolle. Dort müssen die Augenblicke so ganz anders sein als hier, in unserer kleinen Gemeinschaft am Ozean. Dort geht der Tod viel sichtbarer einher.
Während unsere Welt immer mehr außer Kontrolle gerät, bin ich privilegiert, in Einfachheit ruhen zu können. Vielleicht ist es auch nur das, was passiert, wenn man älter wird und die täglichen Anforderungen wegfallen, wenn nur noch wenige Wünsche übrig sind. Dann ist alles, was bleibt, der Augenblick. Seit vielen Jahren schon praktiziere ich Sitz- und Gehmeditation. In Stille sitzen mit einem leeren Geist und immer tiefer in die Liebe und die Leere genommen zu werden. Und zu gehen, die Füße auf dem Boden, oft den Atem beobachtend, versuche ich auch hierbei meinen Geist leer zu halten, aber gegenwärtig zu sein. Ich kann denselben Weg all die Jahre immer wieder gehen, doch jeden Tag ist er anders – die Bewegung der Bäume, das Sonnenlicht auf den Blättern, die Wolkenstruktur. Die Zeit spricht zu mir, indem ich das Obst in Nachbars Garten heranreifen sehe. Ich verstehe nicht, warum die Leute durch die sozialen Medien scrollen müssen und sich über das ärgern, was es gar nicht gibt. Liebe, Freundschaft und Stille machen für mich Sinn.
Und doch mischt sich in den Augenblick oft die Trauer, die ich empfinde, den Schmerz darüber, wie wir diese wunderschöne Erde behandeln, dieses Wesen, das ich unter meinen Füßen fühle, wenn ich gehe. Trauer auch darüber, wie wir die innere Welt vernachlässigt haben, diesen Ort, wo sich Geist und Materie treffen. Jeder Augenblick ist auf so vielfältige Weise lebendig, deren Wahrnehmung wir offenbar vor langer Zeit verloren haben. Wenn ich gehe oder sitze, kann ich am Rande meines Blickfelds Träume, Visionen und unsichtbare Welten erkennen, ähnlich dem Moment, wenn man erwacht und die Träume noch sehr deutlich da sind, bevor der Tag sie verschluckt. Ich kann unter einem Baum sitzen und seine lebendige Gegenwart spüren, aber ich weiß auch, dass er einer ganzen Landschaft angehört, von der wir uns entfremdet haben. Ich stelle nicht zu viele Fragen, ziehe es vor zu beobachten und gegenwärtig zu sein. Aber ich frage mich doch, ob es unser Schicksal oder unsere Wahl gewesen ist, so weit von dem weg zu wandern, was immer um uns ist, was uns erhält und uns heiligen Sinn gibt. Hat unser Drang nach Fortschritt uns dazu gezwungen, so engstirnig in unserem Bewusstsein zu werden?
In manchen Augenblicken sind Erzählungen gegenwärtig, einige über Jahrhunderte gewobene Fäden. Hier, an der Bucht, sind es die Geschichten vom Land und seinen Jahreszeiten, von jenen, die Jahrtausende auf diesem Land einhergingen, die um die Rhythmen und die Lebensunterhaltmuster wussten, wie sie jagen und fischen konnten, bis man sie vertrieb und ihnen Sprache und Gebräuche raubte. Die derzeitigen Geschichten sind auch präsent, die der Klimakrise, der Dürren und Hitzewellen und der Feuer, die jedes Jahr brennen. Und dann schwirren noch seltsame Verzerrungen durch die Gegend. Wenn mich eine Erzählung wirklich anzieht, dann ist es die für eine lebendige Zukunft – was wir erinnern müssen, um eine Gemeinschaft zu bilden, die das Land und seine Geistwesen respektiert, damit die Zukunft heilig werden kann. Etwas so Einfaches und doch leicht Vergessenes, versteckt wie der Rehwildpfad, den ich neulich am Rand meines Gartens entdeckte und der in den dichteren Wald führte.
In manchen Momenten bin ich in diesen Geschichten und frage mich, wie die Menschheit durch diese sich verändernde Landschaft wandern will, wie wir zurückwechseln können zu einer lebendigen Erde, zu einer Daseinsweise, die Ihre mehr-als-menschlichen Bewohner achtet. Aber wenn ich dann am Abend das Reh mit seinem Kitz das Gras fressen sehe oder auf meinem Morgengang bei einem Spinnennetz stehen bleibe, das mit Tautropfen funkelt, verschwinden diese Gedanken. Augenblick für Augenblick ist das Leben in einer Art und Weise jenseits meines begrenzten Verstehens lebendig. Es ist mit so vielen Fäden miteinander verbunden, Muster der Vernetzung, die sich ständig entwickeln. So ist die Welt immer gewesen. Wir treiben die Biosphäre vielleicht über Kipppunkte hinaus und in Feedbackschleifen hinein. Aber das bestreitet nicht ihr einfaches Wunder und ihre Muster der Regeneration.
Während ich in meinen letzten Lebensjahren durch dieses Stück Land wandere, mache ich mir keine Gedanken mehr über Aufgaben und Ziele, nicht einmal über spirituelle Ziele. Das sind nur noch Ideen, zurückgelassen am Wegesrand. Wenn ich einige dieser Jahre, dieser Tage, dieser Momente in der einfachen Gegenwart von dem, was immer um mich herum ist, verbringen kann, kommt das einer angeschlagenen Note gleich, die tief in meinem Sein mitschwingt. Dazu fällt mir ein chinesisches Gedicht ein:
Zehntausend Blumen im Frühling, der Mond im Herbst,
Eine kühle Brise im Sommer, Schnee im Winter.
Ist dein Geist nicht von unnötigen Dingen getrübt,
Ist das die beste Jahreszeit in deinem Leben.
Ich meditiere, ich bete, ich gieße das Gemüse im Garten. Wenn das erste Licht am Morgen kommt, bin ich oft wach und warte darauf, dass die Sonne die Hügel erst rosa und dann rot färbt. Wenn der Abend kommt und die untergehende Sonne sich von hinter dem Ozean spiegelt, warte ich auf den ersten Stern der Nacht. Manche Nacht kann ich die Milchstraße sehen, wie sie sich über den Himmel erstreckt. Ich bin glücklich mit Reis und Gemüse als Mittagessen, besonders mit Kürbis aus unserem Garten. Eine Scheibe Brot und Käse zu Abend, Brot, das meine Frau gebacken hat. Bald werde ich aus den grünen Tomaten, die nicht mehr gereift sind, Chutney machen.
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