Transkript der Podcast-Reihe:
Geschichten für eine lebendige Zukunft

 

Eine meiner liebsten Praktiken oder Gebete ist es, mir vorzustellen, wie ich die Welt tief in mein Herz nehme und dabei diese Liebe zu fühlen, die alles durchzieht – jeden Vogel, jeden Schmetterling, die Bäume, den Ozean, die Streifenhörnchen, die nach ihrer Winterruhe gerade erst wieder im Garten aufgetaucht sind, das auf den Schulbus wartende noch verschlafene Mädchen, an dem ich auf meinem Morgenspaziergang vorbeikomme. Alles, jeder Traum, jede vorüberziehende Wolke ist von Liebe durchdrungen, ist ein Ausdruck der Liebe. Liebe ist die Quelle alles Existierenden, ist alles, was da ist. Dieses ursprüngliche mystische Gewahrsein ist in meine Seele und mein Bewusstsein eingeprägt und begleitet mich durch den Tag, besonders jedoch in den frühen Morgenstunden, wenn mich das Beten ergreift, wenn die Welt der Gedanken verblasst ist und die Gegenwart des Herzens alles ist, worauf es ankommt.

Die Wissenschaftler mögen uns erzählen, dass unser Universum mit dem Urknall vor dreizehn Milliarden Jahren entstanden ist, als Materie von einem ungeheuer heißen und dichten Punkt in die Existenz kam. Aber die Mystiker kennen eine andere Wahrheit: wie aus einer ungeborenen und unsterblichen Leere heraus das Dasein unaufhörlich als ein Fluss von Licht und Liebe geschaffen wird und dann seine physische Form erhält. Und diese Liebe bleibt, ist die Grundlage, die Essenz von allem – von jedem Teilchen, jedem Stern. Sie ist die Urenergie, die eigentliche Macht und Gegenwart in der geschaffenen Welt. Und sie ist unsere göttliche Natur, die sich immer in unserem Körper und unserer Seele weiterentwickelt, auch wenn sie selber konstant bleibt.

In der Welt von heute wird die Liebe im Zusammenhang mit persönlicher Beziehung gesehen. Wir suchen sie in einem Liebhaber oder in einer Liebhaberin, erfahren sie in der Zärtlichkeit einer Mutter. Wir verbinden sie mit Leidenschaft, Verlangen oder Sex, obwohl ihre Essenz ganz anders ist. In meiner Kindheit habe ich nie Liebe erfahren, nie die Worte: „Ich liebe dich“ gehört. Ich denke, meine Eltern wussten überhaupt nicht, dass sie existierte. Stattdessen erlebte ich eine kühle gehobene Mittelklasse-Kindheit mit Internat, kalten Bädern und endlosem Sport auf matschigen Plätzen. Aber in meinen späten Teenagerjahren klopfte die Liebe bei mir an, sang ihren Namen und zog mich tief ins Herz.

Die Liebe ruft uns auf verschiedenste Weisen. Wie Rumi sagt:

Sultan, Heiliger, Taschendieb,
die Liebe packt jeden beim Ohr,
zieht uns auf geheime Weisen zu Gott.

Während viele Leute in dem Gewirr der menschlichen Beziehungen nach Liebe suchen, erfuhr ich die Liebe und die Sehnsucht nach der Liebe zu Füßen meiner Lehrerin, einer weißhaarigen russischen Frau, gerade erst aus Indien zurückgekehrt, wo sie von einem Sufi-Meister geschult worden war. In ihrem kleinen Zimmer dicht bei den Bahnschienen in Nord-London war diese unsichtbare Essenz gegenwärtig, greifbar. Hier geschah es, dass die Liebe in mir durch die einfache Praxis, zu Füßen meiner Lehrerin zu sitzen und auf das Herz zu meditieren, erweckt wurde, entsprechend der alten Sufi-Tradition der göttlichen Liebe, des Geheimnisses der Geheimnisse.

Die Liebe spricht zu unserer Seele und zu unserem Körper. Die Liebe schließt alle Sinne mit ein – Schmecken, Tasten, Riechen, Sehen und Hören. Die Liebe umfasst von ihrer Natur her alles. Sie kann überall gefunden werden, denn sie ist überall. Die Mystikerin enthüllt dieses einfache Geheimnis, dass die Liebe in Wahrheit alles durchströmt – süß, zärtlich, schmerzhaft, wissend, wie auch dunkel und leidenschaftlich. Und wenn diese Urenergie, diese größte Kraft in uns erwacht, in unserem Herzen, in unserer Seele, dann zieht sie uns immer tiefer in ihr Geheimnis, in das Geheimnis des Einsseins, was die Sufis die Einheit des Seins nennen.

Meine eigene Reise führte mich von der Formlosigkeit zur Form. Ich war, als ich meiner Lehrerin damals begegnete, ein intensiver junger Mann und suchte nur in tiefer Meditation nach der Liebe im Herzen. Doch dann verliebte ich mich und wurde wach für die Schönheit einer Frau, für die weibliche Seite der Liebe und der Sehnsucht. Ich wurde durch die Augen einer Frau und ein Sehnen im Herzen in dieses Mysterium geführt. Das Gewirr ihrer Haare, die Weichheit ihres Körpers hatten mich genommen und mir beigebracht, was spirituelle Texte mich nicht lehren konnten. Die göttliche Liebe ist eine spirituelle und körperliche Erfahrung, und in einer Frau sind beide vereint, Körper und Seele. Die indische Dichterin und Prinzessin Mira Bai wusste um dieses Geheimnis. Sie war in Liebe zu Krishna, ihrem „Dunklen Herrn“ entbrannt, und sie verließ ihren Palast, um vor ihm zu tanzen. Sie hatte mit ihrem Dunklen Herrn die Verzückung der Seele erfahren und spricht von den „geheimen Schätzen“ des Körpers:

O Freund, versteh: der Körper
ist wie der Ozean,
reich an verborgenen Schätzen.

 Öffne deine innerste Kammer und entzünde ihr Licht.

Innerhalb des Körpers gibt es Gärten,
seltene Blumen und innere Musik;
im Körper ein See der Glückseligkeit,
die weißen Seelenschwäne kosten ihre Wonne darauf aus.

Und im Körper, ein riesiger Markt –
geh dorthin und handele,
verkauf‘ dich für einen Gewinn, den du nicht ausgeben kannst.

Mira sagt, ihr Herr ist jenseits des Lobpreisens,
gestatte ihr, nahe deiner Füße zu verweilen.

In ihren Worten der Ekstase liegt eines der tiefsten Geheimnisse des Weiblichen, nämlich, dass es in ihrem Körper „Gärten, seltene Blumen und innere Musik“ gibt. Das ist nicht nur erotische Bildsprache, sondern spielt auf das Geheimnis der Schöpfung an und auf die Schönheit und Wunder, die dieser essenziellen Substanz eigen sind. Ohne diese Qualität des Weiblichen gäbe es keine Freude, die Magie des Lebens wäre nicht gegenwärtig. Farben und Düfte würden sich in dumpfen und grauen Tagen verlieren.

Und jetzt, als alter Mann, finde ich dieses Geheimnis der Schöpfung überall um mich herum. Es geht mit mir am frühen Morgen an der Bucht, wenn ich sehe, wie die Perlhühner den Pfad hinunterhasten, die jungen Kaninchen in ihr Versteck hoppeln, die Coyoten im nahen Feld auf der Pirsch sind oder wenn ich kurz einen Flussotter erblicke, die Nase knapp über dem Wasser. Und in der Tiefe der Nacht erfahre ich diese Liebe sowohl in der Leere wie auch in der Welt der Formen.

Ich wurde als Fremder der Liebe geboren, kannte ihre Bedeutung nicht, wusste nicht einmal, dass es sie gab. Über zwanzig Jahre vergingen in einer trüben, grauen Welt, bevor mich das Verlangen nach der Wahrheit zur Liebe führte. Und was jetzt, eine Lebensspanne später, wirklich geblieben ist, scheint diese mich stützende Qualität der Liebe zu sein. Nach einer so langen Reise – oft müde und mit dem Wunsch, einfach nur auszuruhen – kehre ich zur Liebe zurück. Oder die Liebe kehrt zurück. Und diese Liebe schließt alles mit ein. Sie gehört nicht nur zu einer zwischenmenschlichen Beziehung oder zu einer inneren Beziehung zu Gott; sie ist eine Liebe, die alles ist, die alles durchströmt, was existiert – süß, zärtlich, schmerzlich, wissend. Oder einfach nur eine Gegenwart im Herzen, eine weiche Wärme, die manchmal Seligkeit bringt.

Und die Liebe ist gratis, ein Geschenk für jeden und jede von uns. Auch wenn sie Blut kostet und ein gebrochenes Herz ist sie doch unentgeltlich. Die Liebe ist das Leben, das zu seiner Geliebten spricht, und die Geliebte, die zum Leben spricht. Und in dieser Unterhaltung können so viele Dinge geschehen, können so viele Wunder geboren werden – die kleinen unerwarteten Wunder, die wir oft gar nicht bemerken wie ein Moment Sonnenlicht durch die Wolken, wie eine aus einem Sämling gewachsene Blume, die aufblüht, das Lächeln eines Fremden. Diese Welt ist vollgesogen mit der göttlichen Qualität, die darauf wartet, geboren, in die Existenz gebracht, ins Dasein hineingeliebt zu werden. Und einfach nur Teil davon zu sein, ist genug, ist eine Geschichte, die im Herzen singt.

Ja, die Welt ist voller Zwietracht und Leid, voller Blut und Tränen, eine Bombe, die auf einen Marktplatz fällt, die Mutter, deren verhungerndes Kind in ihren Armen stirbt. Dieser Schmerz ist real. Und ich versuche nicht zu verstehen, wie dies alles aus der Liebe geboren wird, ein Ausdruck der Liebe ist. Ich erinnere mich, dass ich einmal, als ich aus tiefstem Inneren für die Leidenden betete, eine kleine Stimme in meinem Herzen sagen hörte: „Glaubst du etwa, ich würde diese Menschen nicht lieben?“ Aber wie all dieses Leiden zu Gott gehört und auch ein Ausdruck göttlicher Liebe ist, bleibt ein Mysterium, das mein Geist nicht fassen kann, auch wenn mein Herz zu Orten genommen wurde, wo allein dieses tiefere Einssein wirklich ist.

Und so werde ich, wenn ich in der Nacht wach bin und für die Welt bete, besonders zu Orten der Dunkelheit und des Leids gezogen, zu Krieg und Ungerechtigkeit, zu denen, die für Freiheit kämpfen oder demonstrieren, zu denen ohne Essen oder Obdach. Und in meinem Herzen fühle ich, wie die Erde zerrissen wird – Artenvielfalt und wilde Schönheit verloren gehen. Durch all das hindurch bleibt die Liebe erhalten, die einzige Konstante, der einzige Trost, das tiefere Wissen um unsere göttliche Natur: dass wir alle aus der Liebe kommen und in die Liebe zurückkehren werden.

Diese Reise hat mich von der Formlosigkeit zur Form geführt, zu des Lebens endloser Vielfalt, wunderschön, numinos und völlig alltäglich. Und dann zurück in die grenzenlose Leere des Jenseits. Die Liebe weint und oft fühlt sich mein Herz gebrochen. Ich spüre, dass die Liebe das einzige ist, was wir wirklich zu geben haben, und dass das der Sinn hinter jeder Erfahrung ist, die unsere Seele berührt. Die Liebe ist des Lebens größtes Geschenk und unser größtes Geschenk zurück an das Leben. Und besonders in dieser Zeit ruft das Leben, die Erde, danach, geliebt zu werden, im Herzen gehalten, damit dieser Faden der Liebe, der in der gesamten Schöpfung gegenwärtig ist, sie in Ihrer Krise unterstützen kann, auf dass damit begonnen wird, eine neue Erzählung für die Menschheit und die Erde in den Stoff der Existenz zu weben.

So wende ich in der Nacht, in den leeren Stunden nach Mitternacht, eine Zeit, die als „machtvoll für mitternächtliches Beten“ bekannt ist, wenn die Gebete besonders wirkungsvoll sind, meine Aufmerksamkeit der Erde und dem Herzen zu, richte mich auf den Liebesfluss aus, der vom Jenseits in die Existenz kommt, und weiß dabei nur, dass dies ein Mysterium ist, dem ich angehöre, was in der zärtlichen Berührung eines oder einer Geliebten zu fühlen ist wie auch in den riesigen Räumen, wo die Sterne geboren werden.

 

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